Leben im Bombenhagel in Mariupol: Wie lange dauert diese Katastrophe noch?

Ein brennendes Gebäude in Mariupol

Ukraine8 Min.

Sascha, ein langjähriger Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) aus Mariupol in der Ukraine, beschreibt das Leben in der von russischen Streitkräften umzingelten und bombardierten Stadt. Aus Sicherheitsgründen möchte er nur seinen Vornamen nennen.

Ich bin in Mariupol geboren, und ich habe mein gesamtes Leben hier verbracht. Ich habe in der Stadt studiert und gearbeitet und gute Zeiten erlebt. Nachdem ich angefangen hatte, für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten, hatte ich auch das Gefühl, eine sinnvolle Arbeit zu leisten. Das Leben in Mariupol war gut.

Doch plötzlich ist es zur Hölle geworden.

Zunächst konnte niemand von uns verstehen, was geschah. Denn in diesen Zeiten war eine solche Katastrophe einfach unvorstellbar. Wir erwarteten keinen Krieg, und wir erwarteten keine Bomben. Wir dachten, all die Warnungen seien nur Geschwätz im Fernsehen. Wir dachten, jemand würde diesen Wahnsinn stoppen. Als ich realisierte, dass er stattdessen zur Realität wurde, fühlte ich mich krank. Ich konnte drei Tage lang nichts essen.

Dennoch schien das Leben zu Beginn einigermassen normal weiterzugehen – obwohl wir wussten, dass nichts mehr wirklich «normal» war. Doch dann begannen die Bombenangriffe und die Welt, die wir kannten, hörte auf zu existieren. Unser Leben war auf einmal geprägt durch Bomben und Raketen, die vom Himmel fielen und alles zerstörten. Wir konnten an nichts Anderes mehr denken, und wir konnten nichts Anderes mehr spüren. Die Wochentage verloren ihre Bedeutung, ich konnte nicht mehr sagen, ob es Freitag oder Samstag war. Es war alles ein einziger Alptraum. Meine Schwester versuchte, den Überblick zu behalten, welcher Tag gerade war, aber für mich verschwamm alles.

In den ersten Tagen konnten wir von Ärzte ohne Grenzen glücklicherweise unser medizinisches Material einer Notaufnahme in Mariupol zur Verfügung stellen. Aber als die Stromversorgung und das Telefonnetz zusammenbrachen, konnten wir unsere Kollegen nicht mehr erreichen und unsere bisherige Arbeit nicht mehr weiterführen. Die Bombenangriffe wurden jeden Tag schlimmer. Unsere Tage bestanden darin, irgendwie zu überleben und einen Ausweg zu finden.

Wie kann man es beschreiben, wenn das eigene Zuhause ein Ort des Grauens wird? Überall in der Stadt entstanden neue Friedhöfe, in fast allen Vierteln. Sogar in dem kleinen Hof des Kindergartens nahe meines Hauses, wo eigentlich Kinder spielen sollten.

Wie soll nach diesem Krieg die Zukunft unserer Kinder aussehen? Wie sollen wir noch mehr Schmerz und Trauer ertragen? Jeder Tag ist, als ob man sein ganzes bisheriges Leben verliert.

Es hat mich tief bewegt zu sehen, wie in Mariupol so viele Menschen anderen halfen. Es war, als ob sich jeder immer um jemand anderen sorgte und nie um sich selbst. Mütter sorgten sich um ihre Kinder und Kinder um ihre Eltern. Ich war besorgt um meine Schwester – sie war so angespannt wegen der Bomben, das ich immer dachte, ihr Herz würde zu schlagen aufhören. Ihre Fitnessuhr zeigte einen Puls von 180 Schlägen pro Minute an, und ich war gestresst, sie so zu sehen. Ich sagte zu ihr, es wäre ziemlich dumm, inmitten dieses ganzen Schlamassels an Angst zu sterben! Mit der Zeit gewöhnte sie sich etwas an die Situation, und anstatt vor Angst zu erstarren, zählte sie mir während der Angriffe alle Verstecke auf, die ihr einfielen, um Schutz zu suchen. Ich war immer noch sehr besorgt um sie. Es war klar, ich musste sie hier herausbringen.

Wir haben dann dreimal unseren Aufenthaltsort in der Stadt gewechselt, immer auf der Suche nach dem sichersten Platz. Wir hatten Glück, denn wir landeten schliesslich bei einer fantastischen Gruppe von Menschen, die ich jetzt als meine Familie betrachte. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschheit überlebt, wenn sie zusammenbleibt und man sich gegenseitig hilft. Ich habe das mit meinen eigenen Augen gesehen, und es hat mich sehr berührt.

Es hat mich auch gerührt zu sehen, wie mutig die Menschen waren – oder wie mutig sie sein mussten. Ich erinnere mich an eine Familie, die auf der Strasse vor ihrem Haus gekocht hat. Nur wenige Meter von ihrem Feuer waren zwei grosse Krater von Granaten, die nur wenige Tage zuvor eine andere Familie getroffen hatten.

Es hat mich berührt zu sehen, wie Menschen an ihrem Leben hängen und am Guten festhalten. Am Weltfrauentag am 8. März entschieden wir uns, trotz allem zu feiern. Wir sagten den Nachbarn Bescheid und diese luden ihre Freunde ein. Jemand fand eine Flasche Champagner und irgendwer zauberte sogar einen Kuchen, nur mit der Hälfte der Zutaten, die im Rezept standen. Es gelang uns sogar, ein paar Minuten lang Musik zu spielen. Für eine halbe Stunde konnten wir alle die Freude an unserem Fest spüren, und es war gut, fröhlich zu sein und wieder zu lachen. Wir scherzten sogar, dass dieser Alptraum enden werde.

Doch er ging weiter. Und es schien so, als ob er niemals enden würde.

Jeden Tag versuchten wir aufs Neue, aus der Stadt zu kommen. Aber es gab so viele Gerüchte darüber, was passieren würde und was nicht, dass wir langsam daran zweifelten, ob wir es je schaffen würden.

Dann erhielten wir die Information, dass ein Konvoi die Stadt verlassen würde. Wir stiegen in mein altes Auto und fuhren so schnell wir konnten, um den Abfahrtsort zu finden. Wir erzählten so vielen Menschen wie möglich davon, aber es macht mich sehr traurig, wenn ich an all diejenigen denke, denen wir es nicht mehr sagen konnten. Alles ging so schnell, und da das Telefonnetz zusammengebrochen war, konnten wir niemanden anrufen.

Bei der Abfahrt des Konvois herrschten Chaos und Panik, die vielen Autos fuhren in alle Himmelsrichtungen. In eines der Autos hatten sich so viele Menschen gedrängt, dass man sie nicht mehr zählen konnte. Man sah nur unzählige Gesichter, die von innen gegen die Fenster drückten. Ich weiss nicht, wie und ob sie es aus der Stadt geschafft haben, aber ich hoffe es inständig. Wir hatten keine Karte dabei und machten uns Sorgen, in die falsche Richtung zu fahren. Aber irgendwie gelang es uns, tatsächlich aus Mariupol herauszukommen.

Erst auf diesem Weg heraus aus der Stadt verstand ich, dass die Lage viel schlimmer war, als ich ursprünglich gedacht hatte. Offensichtlich hatte ich Glück gehabt, dass ich in einem Stadtteil Unterschlupf gefunden hatte, der relativ verschont geblieben war. Doch nun sah ich das ganze Ausmass der Zerstörung und des Leids. Wir fuhren an Wohngebieten mit riesigen Einschlagslöchern, zerstörten Supermärkten, medizinischen Einrichtungen und Schulen vorbei. Selbst Schutzräume, in denen die Menschen sich in Sicherheit bringen wollten, waren zerbombt.

Wir sind jetzt erstmal in Sicherheit, aber wer weiss, was die Zukunft bringt. Als ich endlich wieder Zugang zum Internet hatte, war ich geschockt über die Bilder meiner geliebten Stadt in Flammen und meiner Mitbürger:innen inmitten der Trümmer. Ich las die Nachrichten über die Bombardierung des Theaters, in dem viele Familien mit Kindern Schutz gesucht hatten. Ich kann nicht in Worte fassen, welche Gefühle dies in mir auslöste. Ich kann nur fragen: Warum?

Uns blieb keine andere Wahl als viele geliebte Menschen zurückzulassen. Der Gedanke, dass sie und andere noch immer dort sind, ist schwer zu ertragen.

Ich mache mir sehr grosse Sorgen um meine Familie. Ich habe versucht zurückzukehren, um sie herauszuholen, aber ich bin gescheitert. Nun fehlt von ihnen jede Nachricht.

Die Menschen, die mit anderen zusammen sind, haben eine bessere Chance zu überleben. Aber es gibt so viele, die alleine sind. Die Alten und Gebrechlichen können nicht kilometerlang laufen, um Wasser und etwas zu essen zu finden. Wie werden sie es schaffen?

Mir geht diese alte Dame nicht mehr aus dem Kopf, der wir vor zwei Wochen auf der Strasse begegneten. Sie hatte Schwierigkeiten beim Gehen, und ihre Brille war kaputt, also konnte sie auch nicht mehr gut sehen. Sie zog ein kleines Handy aus der Tasche und fragte uns, ob wir es für sie aufladen könnten. Ich versuchte es mit meiner Autobatterie, aber es funktionierte nicht. Ich sagte ihr, dass das Telefonnetz zusammengebrochen war und dass sie sowieso niemanden anrufen könne, selbst wenn ihr Akku aufgeladen wäre.

«Ich weiss, dass ich niemanden anrufen kann», sagte sie. «Aber vielleicht versucht irgendwann jemand, mich anzurufen.» Mir wurde klar, dass sie ganz alleine war und all ihre Hoffnungen an diesem Telefon hingen. Vielleicht versucht jemand, sie zu erreichen. Vielleicht versucht meine Familie, mich zu erreichen. Wir wissen es nicht.

Dieser Alptraum dauert nun schon seit einem Monat an, und jeden Tag verschlimmert sich die Situation. In Mariupol sterben jeden Tag Menschen durch Beschuss, Bombardierungen und den Mangel an Lebensmitteln, Wasser und Gesundheitsversorgung. Die unschuldige Zivilbevölkerung muss unerträgliches Leid aushalten – jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Nur wenigen ist es gelungen zu fliehen. Sehr viele sind noch vor Ort und verstecken sich in zerstörten Gebäuden oder Kellern von zerbombten Häusern, ohne jegliche Hilfe von aussen.

Warum müssen diese unschuldigen Menschen das weiter ertragen? Wie lange wird die Menschheit diese Katastrophe noch zulassen?

 

- Sascha, ein langjähriger Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen aus Mariupol