Masken oder Brot: Covid-19 im Nordwesten Syriens
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Syrien5 Min.
Seit Juli steigt die Zahl der Covid-19-Neuerkrankungen im Nordwesten Syriens stetig an. Um die Ausbreitung aufzuhalten, haben die lokalen Behörden ab dem 6. November einen Teil-Lockdown beschlossen.
In den Flüchtlingslagern müssen sich die Menschen, die bereits mit einer Wirtschaftskrise und den Auswirkungen des Konflikts zu kämpfen haben, an die neue Situation gewöhnen.
Für Kamal, Alleinversorger einer Familie von 15 Personen, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie fatal. Vor Covid-19 suchte Kamal jeweils Arbeit auf Baustellen. Auch wenn ihm das nicht immer ein sicheres Einkommen bescherte, konnte er doch einigermassen für seine Familie aufkommen.
Ich weiss, dass es wegen des Coronavirus riskant ist, das Haus zu verlassen. Aber ich habe keine Wahl, meine Familie braucht etwas zu essen.
Heute lebt Kamal mit seinen Eltern und zwölf weiteren Familienmitgliedern auf zwei Zelte aufgeteilt im Lager von Abu Dali. Sie sind im Februar 2019 aus ihrer Heimatstadt in der ländlichen Provinz Hama geflohen, nachdem es dort zu heftigen Bombenangriffen gekommen war.
Als wir zum ersten Mal vom Coronavirus hörten, dachten wir, es sei ein Gerücht oder zumindest nichts Schlimmeres als eine Grippe. Jetzt weiss ich, dass es ernst ist und das Virus mich direkt betrifft.
Viele der 16 000 Einwohner*innen des Lagers Abu Dali leben mit ihren erweiterten Familien zusammengedrängt in Zelten; einige haben eine Fläche von gerade mal sechs Quadratmetern. Ärzte ohne Grenzen kümmert sich um die Gesundheitsversorgung im Lager. Die Organisation ist in mehreren Lagern im Nordwesten Syriens tätig, um den Vertriebenen zu helfen. Denn in den vergangenen Jahren wurden insgesamt über zwei Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, die nun im Gouvernement Ibb leben.
In überfüllten Lagern ist das Risiko für eine Ansteckung mit Covid-19 besonders hoch. Selbstisolation ist sehr schwierig bis unmöglich. Schon nur regelmässiges Händewaschen ist eine Herausforderung, weil viele Menschen nur das Wasser zur Verfügung haben, das sie in gemeinsam genutzten Tanks holen gehen.
«Ich versuche einfach, mich von jeglichen Personen, bei denen Verdacht auf eine Covid-19-Erkrankung besteht, so gut wie möglich fernzuhalten», sagt Kamal.
Masken oder Brot?
Die 39-jährige Oum Firas ist in einer ähnlichen Situation wie Kamal. Seit ihr Mann bei einem Luftanschlag schwer verletzt wurde und nun halbseitig gelähmt und arbeitsunfähig ist, ist sie für den Lebensunterhalt der Familie zuständig.
Bis vor wenigen Monaten konnte Oum Firas für die Bedürfnisse ihres Mannes und ihren neun Kindern aufkommen, indem sie die Zelte anderer Bewohner*innen instand setzte oder Matratzen und Laken flickte. Jetzt muss sie herausfinden, wie sie mit möglichst geringem Risiko dennoch ihre Familie ernähren kann.
«Um mich selbst und meine Familie zu schützen, verlasse ich mein Zelt grundsätzlich nicht mehr», erzählt sie. «Aber manchmal bin ich dazu gezwungen, um Arbeit zu suchen. Ich habe die ganze Zeit Angst, mich mit dem Virus anzustecken und es dann an meine Kinder weiterzugeben, aber was soll ich sonst tun?»
Von Oum Firas neun Kindern gingen nur drei Mädchen zur Schule. Die Schulen im Nordwesten Syriens mussten Massnahmen ergreifen, um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren: Die Schüler*innen wurden zum Tragen einer Maske aufgefordert. Der Preis einer Maske beträgt eine türkische Lira, was für viele Eltern nicht erschwinglich ist.
«Der Lehrer bat meine Töchter immer wieder, eine Maske aufzusetzen. Aber ich habe noch nie eine gekauft, ich kann mir ja kaum Brot leisten. Wenn ich etwas kaufen gehe, dann wähle ich immer Brot.»
Manchmal schicken Eltern ihre Kinder nicht mehr zur Schule, weil sie sich keine Masken leisten können. In einigen Schulen suchen die Lehrer nach anderen Möglichkeiten, so dass die Schüler*innen zum Beispiel alte Stoffresten verwenden dürfen, um sich das Gesicht zu bedecken.
Ausgangssperre verschlimmert die wirtschaftliche Lage
Auch Oum Ahmed, 40 Jahre, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie ist 2012 mit ihrem Mann und ihren sieben Kindern aus der Provinz Hama geflohen. Seit 2014 leben sie in einem Lager in Deir Hassan. Sie sind zu neunt in einem Zelt untergebracht, das nur aus einem Raum besteht. Ihr Mann ist bettlägerig und nicht arbeitsfähig.
Oum Ahmed war somit die Alleinversorgerin der Familie; sie hatte einen Job als Hygieneassistentin in einem Spital im Distrikt Ad-Dana. Nach einer Niereninsuffizienz vor ein paar Monaten war sie jedoch gezwungen, aufzuhören.
Im Lager, in dem Oum Ahmed lebt, teilen sich die rund fünfzig Familien einen einzigen Wassertank und drei Sanitäranlagen. «Es ist unmöglich, sich die Hände regelmässig zu waschen, ohne sich dabei einem Risiko auszusetzen», sagt sie.
Seife ist nicht mehr erschwinglich
Die finanzielle Lage der Familie verschlechtert sich zusehends. Für Oum Ahmed wird es immer schwieriger, sich Sachen wie Seife kaufen zu können. Kürzlich hat sie ein Hygiene-Set bestehend aus Seife, Reinigungsmittel und Eimern erhalten. Ärzte ohne Grenzen verteilt diese Sets seit April an vertriebene Familien überall im Nordwesten Syriens.
«Es gibt nur wenig, das wir tun können, um eine Ansteckung zu vermeiden», sagt Oum Ahmed. «Ich versuche, möglichst nicht rauszugehen und den Kontakt mit anderen zu vermeiden. Ich kann aber meinen Kindern nicht verbieten, draussen mit anderen Kindern zu spielen. Sie sind jung, wollen spielen und unser Zelt ist sehr klein. Ich weiss, dass es ein Risiko, aber wie kann ich sie daran hindern?»
Bereits vor der Ausgangssperre waren die Lebenskosten stark gestiegen und viele Menschen hatten Mühe, sich über Wasser zu halten. «Anfang Oktober waren die Märkte, Moscheen und Schulen während ein paar Tagen geschlossen», erzählt Hassan, Logistik-Verantwortlicher bei Ärzte ohne Grenzen. «Viele Menschen sind auf die Märkte angewiesen und können es sich nicht leisten, während längerer Zeit ohne Arbeit zu sein.»
Gesundheitssystem ist überfordert
Nach mehreren Jahren Bürgerkrieg ist das Gesundheitssystem im Nordwesten Syriens nicht gewappnet, um mit einer Krankheit wie Covid-19 umzugehen. Für eine Bevölkerung von fast vier Millionen gibt es nur neun Spitäler für Covid-19-Patient*innen, daneben hat es etwa 36 Einrichtungen, wo Menschen mit leichten Symptomen isoliert und behandelt werden können.
«Die Provinz Idlib ist zu einem riesigen Gefängnis geworden: Die Menschen können weder in Richtung Süden noch Richtung Norden reisen, sie sitzen hier in der Mitte fest», sagt Hassan. «Sie glauben, dass das Virus irgendwann auch sie und ihre Familien erwischt. Sie hoffen einfach, dass es sie nicht alle zur gleichen Zeit trifft. Denn das Gesundheitssystem ist nicht in der Lage, mit vielen Patient*innen auf einmal zurechtzukommen.»
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