Medizinische Hilfe auf dem Wasserweg: Wie unsere Teams indigene Gemeinschaften in Venezuela unterstützen
© Matias Delacroix
Venezuela3 Min.
Der Bundesstaat «Delta Amacuro» erstreckt sich über ein enormes Gebiet im Nordosten Venezuelas. Es liegt am Atlantik, die wichtigsten Verkehrswege sind Flüsse, der tropische Regenwald reicht bis zum Horizont. Die Region ist entlegen, von der Aussenwelt abgeschieden. Und dennoch leben hier zahlreiche indigene Gemeinschaften. Wenn jemand krank wird, ist das jedoch ein Problem. Denn der Zugang zu medizinischen Leistungen ist äusserst begrenzt. Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) ist in Delta Amacuro im Einsatz, behandelt Kranke, Verletzte, Schwangere – und organisiert, wenn nötig, auch einen Transport ins Spital.
Adelia ist 18 und in der 38. Schwangerschaftswoche. Vorsorgeuntersuchungen hatte sie bisher noch keine einzige. Sie gehört zu der indigenen Gemeinschaft der Warao. Als die Geburt losging, wollte sie den Wisirato aufsuchen. Der spirituelle Heiler spielt in ihrer Kultur eine wichtige Rolle. Doch die Wehen waren so stark, dass Adelia plötzlich grosse Angst bekam.
Einen Tag zuvor hatte die junge Frau zwei Boote auf dem Orinoco-Fluss vorbeifahren sehen. Sie erkannte auf den Fahnen unser Logo. Tatsächlich waren Mitarbeitende von uns auf dem Weg in die nahe gelegene Gemeinde Nabasanuka, um dort medizinische Hilfe zu leisten. Adelia und ihre Mutter folgten ihnen – im Holzboot.
Im Kreisssaal der Nabasanuka-Klinik empfand Adelia die Hitze als erdrückend. Sie wurde aufgrund ihres Alters und der fehlenden Vorsorgeuntersuchungen als Risikopatientin eingestuft. Doch am nächsten Morgen um 9.30 Uhr hörte sie die ersten sanften Schreie ihres Sohnes José Antonio. Das Baby mass bei der Geburt 52 cm und ist gesund und kräftig.
Seit Juli 2022 arbeiten wir mit lokalen Behörden zusammen, um die medizinische Grundversorgung in abgelegenen Gemeinden im Delta des Bundesstaates Amacuro sicherzustellen. Das ist keine leichte Aufgabe: Der Staat erstreckt sich über mehr als 40 000 Quadratkilometer und ist stark bewaldet. Die meisten indigenen Gemeinden leben verstreut an den Ufern des Orinoco-Flusses, die Hauptverkehrsstrasse der Region. Die Wege sind weit und beschwerlich: Die Teams legen in der Regel rund sechs Stunden mit dem Motorboot von der Hauptstadt des Bundesstaates Tucupita zur nächstgelegenen Gesundheitseinrichtung zurück. Auch Patient:innen sind oft stunden- oder sogar tagelang in ihren Kanus unterwegs, wenn sie medizinische Hilfe benötigen.
In den indigenen Gemeinschaften behandeln unsere Teams eine Reihe von vermeidbaren Krankheiten. Dazu gehören durch Wasser übertragene Krankheiten wie Parasitose und Durchfall. Auch durch Insekten wie Mücken übertragene Krankheiten, Atemwegsinfektionen, Hautkrankheiten und Mangelernährung sind weit verbreitet. Vor- und Nachsorge für Schwangere gibt es kaum. Das erhöht die Risiken für Mutter und Kind.
Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede in der Region erschweren den Zugang zu Gesundheitsdiensten zusätzlich, genauso wie der Mangel an medizinischen Hilfsgütern. «Es ist schwer, in diesen abgelegenen Orten Personal zu finden. Auch die Medikamentenvorräte sind knapp. Dadurch bleibt vielen Menschen eine angemessene und hochwertige medizinische Versorgung verwehrt», erklärt Carlos Dominguez, der das Projekt in Delta Amacuro koordiniert.
Gemeinsam mit lokalen Behörden arbeiten wir in San Francisco de Guayo und Nabasanuka. Ein multidisziplinäres Team versorgt dort täglich rund 70 Patient:innen. Das Team besteht aus Ärzt:innen, Pflegekräften, Pharmazeut:innen, Expert:innen im Bereich Wasser und Abwasser sowie Logistiker:innen.
Auch die Gesundheitsförderung ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit von unseren Teams in Delta Amacuro
Wir versorgen die Menschen mit wichtigen Informationen und sensibilisieren sie damit für Hygiene und Krankheitsprävention. Dabei berücksichtigen wir die Traditionen der Gemeinschaft jeweils streng.
Unsere Teams verlegen auch Patient:innen in Spitäler, die eine besondere Behandlung benötigen – wie der kleine Jesus: Es wurde ein Boot für den Dreijährigen organisiert. Daraufhin brachten seine Eltern ihn sicher in die Klinik von Nabanasuka.
Unsere Arbeit im Bundesstaat Delta Amacuro zeigt, wie wichtig es ist, allen Menschen unabhängig von ihrer geografischen Lage oder ihren Lebensumständen medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Wir sind davon überzeugt, dass Gesundheitsversorgung ein Grundrecht ist. Und dieses gilt auch für Menschen in den entlegensten Winkeln der Erde. Ein Anführer der Warao-Gemeinschaft findet passende Worte: «Menschen fühlen sich ruhig und glücklich, wenn es in ihrem Dorf eine:n Ärzt:in gibt.»
Adelia hat wertvolle Infos zum Thema Stillen mit auf den Weg bekommen und fühlt sich bereit, flussaufwärts nach Hause zu fahren. Sie kann es kaum erwarten, ihren kleinen José Antonio seiner Gemeinschaft vorzustellen.
© Matias Delacroix