Vertriebene in Khanaqin: Rückkehr unmöglich
© Hassan Kamal Al-Deen/MSF
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Im Gouvernement Diyala leben seit Jahren Tausende Menschen als Vertriebene. Die Lebensbedingungen in den Camps sind schlecht, dennoch kommt eine Rückkehr in die Heimat für viele nicht infrage. Ärzte ohne Grenzen bietet psychologische Betreuung und behandelt chronische Krankheiten.
Auf einer Anhöhe an einem verschmutzten Fluss brüten vor den Toren der Stadt Khanaqin in Dutzenden Reihen aufgestellte Wohncontainer in 47 Grad Hitze. Khanaqin liegt im Gouvernement Diyala im Osten des Iraks. In den als Alwand 1 und 2 bekannten Camps leben rund 827 Mehrgenerationenfamilien, die dort 2014 untergebracht wurden, als der IS kurzzeitig einige Städte und Dörfer in Diyala besetzt hatte. Sie leben mit all ihren Habseligkeiten derart eng beieinander, dass persönlicher Freiraum und Privatsphäre so gut wie nicht existieren. Da eine Rückkehr nach Hause keine echte Option ist, es im Camp keine Arbeit gibt und die Ersparnisse schon seit Jahren aufgebraucht sind, ist nahezu jede Familie auf die immer weiter abnehmende humanitäre Hilfe angewiesen. Die mit ihrer Situation verbundene Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit sowie die Monotonie und Sinnlosigkeit des Camp-Alltags sind eine psychische Belastung für die Bewohnerinnen und Bewohner, die bereits durch die Flucht traumatisiert sind.
«Je länger die Menschen hier sind, desto prekärer ihre finanzielle Lage und desto schlechter ihre seelische Verfassung.»
«Die hier lebenden Menschen sind in keiner guten seelischen Verfassung», sagt Abdulrazzaq, der als Berater für psychische Gesundheit in der von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) betriebenen Klinik im Alwand-1-Camp arbeitet und selbst ein Vertriebener ist. «Das liegt zum einen an ihren traumatischen Erlebnissen, wie dem Verlust von Angehörigen, ihres Grundbesitzes oder ihrer Häuser, und zum anderen an den schwierigen Lebensbedingungen im Camp. Die beiden grössten Sorgen, die in unseren Sitzungen immer wieder Thema sind, sind das Geld und die Tatsache, dass es zu gefährlich ist, nach Hause zurückzukehren. Je länger sie hier sind, desto prekärer ihre finanzielle Lage und desto schlechter ihre seelische Verfassung.»
Wissam, 34 Jahre alt aus Saadiya – einer von Khanaqin rund 37 km entfernten Stadt, die am Diyala-Fluss liegt und im November 2014 aus den Fängen des IS zurückerobert wurde –, kommt in die MSF-Klinik im Alwand-Camp, um herauszufinden, was er für sich und seine Familie am besten tun kann, um die alltäglichen Probleme und Stresssituationen zu bewältigen. «Verhungern wird hier niemand, aber wir sind es nicht gewohnt, unter solchen Bedingungen zu leben», erklärt er. «Wir wollen, dass sich die Sicherheitslage verbessert, damit wir nach Hause können. Zurzeit ist es in meinem Dorf jedoch zu gefährlich und wir haben keine Arbeit, die es uns ermöglichen würde, unsere Häuser wiederaufzubauen. Wir waren Bauern, hatten Obstplantagen und Vieh, hier aber leben wir in Containern. Wie soll man da seinen Lebensunterhalt verdienen?»
Angst vor Armut oder willkürlichen Verhaftungen
Seit die irakischen Streitkräfte die Region vor ein paar Jahren vom IS zurückerobert haben, hat die Regierung vertriebene Familien dazu ermutigt, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Vielen ist dies gelungen, seit einigen Monaten ist die Zahl der Rückkehrer allerdings rückläufig: Über 55 000 Männer, Frauen und Kinder sind im Gouvernement Diyala nach wie vor heimatvertrieben und befürchten, dass sie vielleicht nie wieder nach Hause gehen können.
Gründe hierfür gibt es viele: Einige glauben, dass sie aufgrund der veränderten Bewohnerschaft in ihrer Heimatgegend nicht mehr willkommen sind, und wurden sogar offen bedroht. Andere haben Angst, dass sie verstossen oder Ziel kollektiver Bestrafung werden könnten, weil Mitglieder ihres Stammes Verbrechen begangen oder den IS unterstützt haben sollen. Wiederum andere fürchten sich vor willkürlichen Verhaftungen, eingeschränkter Bewegungsfreiheit, extremer Armut oder dem Mangel an finanziellen und grundlegenden Mitteln, die sie zum Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser und zum Überleben benötigen.
Reduzierte Hilfsleistungen im Camp
Armut ist ein Problem, das alle Familien im Camp betrifft und die Beziehungen in den vergangenen Jahren belastet hat. Da sich immer mehr NGOs aus der Region zurückziehen und Hilfsleistungen mangels finanzieller Mittel nach und nach eingestellt werden, haben die Bewohnerinnen und Bewohner Angst, dass das Camp geschlossen werden könnte oder sie ohne finanzielle und medizinische Unterstützung und Verpflegung zurückgelassen und auf sich allein gestellt werden.
«Wir sind finanziell am Ende, was uns psychisch sehr belastet», sagt Hassan, der 2016 aus seinem Zuhause in Saadiya vertrieben wurde. «Manchmal verkaufe ich etwas von dem Essen, das wir bekommen, um für meine Familie zu sorgen. Wenn jemand krank wird, kann ich die Behandlung nicht bezahlen. Dass ich traurig und wütend bin, ist doch verständlich. Mein Haus wurde zerstört, wo soll ich denn leben, wenn ich nach Saadiya zurückkehren möchte? Etwa auf der Strasse?»
Besonders für Frauen ist das Leben im Camp bedrückend und einsam. In traditionellen irakischen Gemeinschaften treffen sich die Frauen mit ihren Nachbarinnen und Familienangehörigen in ihren Häusern oder Gärten, wo sie ungestört Zeit miteinander verbringen können und sich die Hausarbeit teilen. Im Camp gibt es jedoch keine privaten Aussenbereiche, wo sich Frauen treffen können, was bedeutet, dass sie die meiste Zeit im engsten Familienkreis oder allein im Wohncontainer verbringen.
«Wir langweilen uns sehr und fühlen uns eingesperrt», sagt Sabiha. «Wir verbringen den Tag damit, uns gegenseitig anzustarren, und können keine Verwandten besuchen oder irgendwo hingehen. Seit unserer Flucht habe ich psychische Probleme. Ich kann nur mit Medikamenten schlafen und fühle mich trotzdem nicht gut, da mir von den Tabletten schwindelig wird. Wenn es ganz schlimm ist, werde ich sehr traurig und ich fühle mich, als würde ich ersticken. Dann muss ich raus aus dem Container. Ich kann keine Hausarbeit mehr machen, selbst wenn alle zu mir kommen und versuchen, mich zu trösten, bin ich immer noch sehr traurig», sagt Sabiha.
Unser Einsatz im Gouvernement Diyala
Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit 2014 im Gouvernement Diyala und bietet den Familien von Vertriebenen, den Rückkehrern sowie den aufnehmenden Gemeinschaften psychologische Betreuung, die Behandlung chronischer Erkrankungen sowie sexuelle und reproduktive Gesundheitsversorgung an. Die Organisation war bis vor kurzem nicht nur im Alwand-1-Camp tätig, sondern hat auch das örtliche Gesundheitsministerium bei der medizinischen Versorgung in Jalawla und Saadiya unterstützt. Aufgrund neuer Entwicklungen hat Ärzte ohne Grenzen ihre Tätigkeiten in den Zentren für medizinische Grundversorgung in Jalawla und Saadiya übertragen und ist gerade dabei, gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium neue Projekte für die Menschen aus Muqdadiya und Sinsil im Gouvernement Diyala zu lancieren.
2019 hat Ärzte ohne Grenzen bislang 2915 Sitzungen zur psychologischen Betreuung und 12 250 Sprechstunden zu nichtübertragbaren Krankheiten durchgeführt sowie 6647 Frauen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit betreut.
© Hassan Kamal Al-Deen/MSF