„Wegen des grossen Misstrauens zwischen Bevölkerungsgruppen sind viele ohne medizinische Versorgung“
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Andrei Slavuckij leitet Projekte von Médecins Sans Frontières/ Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Süden Kirgisistans. Er beschreibt die Situation in der Stadt Osch zwei Wochen nach den gewalttätigen Zusammenstössen, in denen hunderte Menschen getötet wurden.
Andrei, ist die Situation vor Ort noch angespannt?
Es ist unter der Bevölkerung immer noch eine starke Anspannung zu spüren. Anfang letzter Woche wurden in das Krankenhaus in Osch, das von MSF geleitet wird, an einem Tag 25 Verwundete eingeliefert. Viele von ihnen waren geschlagen worden. Gerüchte machen die Runde, und es herrscht viel Angst. Aber generell beruhigt sich die Situation. Ein nationales Referendum am Sonntag verlief ruhig und ein Grossteil der Menschen, die nach Usbekistan oder in die kirgisische Grenzregion geflohen waren, ist inzwischen zurückgekehrt. Viele von ihnen fanden ihre Häuser jedoch niedergebrannt vor.
Was benötigen die Menschen am dringendsten?
Da sie alles verloren haben, brauchen sie praktisch alles. Jene, die ihr Haus verloren haben, versuchen bei Nachbarn oder in Schulen unterzukommen. Diese Unterkünfte sind aber oft überfüllt, und es fehlt an sauberem Wasser und einfachster hygienischer Ausstattung. MSF hat auf diese Situation mit der Verteilung hunderter Hygiene-Kits regiert, die Seife, Handtücher und Shampoo enthalten. Und es wurden Küchenutensilien, Decken und Kanister an betroffene Familien ausgegeben. Gleichzeitig ist es wichtig, den Menschen den Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Aus diesem Grund unterstützt MSF zwölf Gesundheitseinrichtungen in den Regionen um Osch und Jalalabad hauptsächlich mit Medikamenten, medizinischem Material und Training. Darüber hinaus sehen wir auch psychologische Probleme. In einem Krankenhaus in dem Ort Onadyr treffen unsere Ärzte immer häufiger auf Patienten mit psychischen Problemen. Als wir in der Klinik eintrafen berichtete uns das medizinische Personal, dass viele Frauen Fehlgeburten erlitten hatten, was vermutlich eine weitere tragische Konsequenz des Stresses ist.
Die mentalen Wunden sind tief und brauchen Zeit zum Heilen
Viele Menschen die wir treffen sind noch tief geschockt. Mütter erzählen uns, dass ihre Kinder nachts nicht schlafen können, nicht mehr draussen spielen wollen oder einzelne Geräusche sie so ängstigen, dass sie ins Haus flüchten. Vergangene Woche waren wir in Suratasch, einem Dorf an der Grenze zu Usbekistan, um für Tausende zurückkehrender Flüchtlinge Sprechstunden abzuhalten. Wir sahen viele, die weinend über die Grenze kamen. Wir fragten sie „Wie geht es Ihnen?“ und sie weinten nur und dann begannen sie zu reden und zu reden. Eine unserer Krankenschwestern versorgte einen Mann mit schweren Beinverletzungen. Ich begleitete ihn zu dem von MSF unterstützten Krankenhaus in Onadyr, in der Umgebung von Osch. Auf dem Weg erzählte er mir, dass er vier Jahre gebraucht hatte, um sein Haus, das durch einen Unfall abgebrannt war, wieder aufzubauen. Er weinte wie ein Kind. Aber plötzlich bekam er einen festen Blick und sagte zu mir: „Es ist in Ordnung, wir werden es wieder machen.“ Da war mir klar, dass dieser Mann niemals von hier weggehen würde, dass er hier bleiben würde.
Wie ist die Atmosphäre zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nach den letzten Ereignissen?
Diese Frage lässt sich schwer beantworten. Doch in den medizinischen Einrichtungen beobachten wir ein hohes Mass an Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen, was dazu führt, dass viele ohne medizinische Versorgung sind. Trotz grosser Anstrengungen von Seiten der kirgisischen Regierung, medizinische Unterstützung in die südlichen Regionen zu bringen, haben viele Menschen keinen Zugang zu ihr. Unter den Usbeken herrscht nach wie vor viel Angst und Misstrauen gegenüber staatlichen Angeboten, die überwiegend für kirgisisch gehalten werden. Die Anwesenheit bewaffneten Personals in medizinischen Einrichtungen stärkt diese Angst der Usbeken noch und hält sie davon ab, Hilfe bei Spezialisten zu suchen. Unsere Ärzte hatten mehrmals das Problem, dass Patienten sich weigerten, in solche Krankenhäuser überwiesen zu werden. Aus dem Nariman Krankenhaus wurde uns von einem Mann mit Diabetes berichtet, der zwei Mal von bewaffneten Männern in seinem Bett festgenommen, aus dem Krankenhaus geschafft und geschlagen wurde. Wir haben die zuständigen Behörden informiert, mit dem bewaffneten Personal gesprochen und dazu aufgerufen, die medizinische Ethik zu respektieren. Wir hoffen, dass dies positive Veränderungen bringt.
Was kann in dieser Situation die Rolle von MSF sein?
Die Rolle von MSF ist es, dorthin zu gehen wo Not herrscht. Der letzte Gewaltausbruch, das darauffolgende Misstrauen und die Angst haben die bereits bestehende medizinische Notlage noch verstärkt. Auf der einen Seite wurden kleine Krankenhäuser mit Patienten schier überrannt, auf der anderen Seite waren viele offizielle Gesundheitseinrichtungen für einen grossen Teil der Bevölkerung nicht zugänglich. Deswegen hat MSF sich entschlossen, mehrere medizinische Einrichtungen zu unterstützen. Der Fokus liegt dabei auf denjenigen, die bisher wenig Unterstützung erhielten. Wie zum Beispiel in Onadyr, wo unser Ärzte und Krankenschwestern mit nationalem Personal kooperieren. Wir arbeiten mit Personal aus allen Einrichtungen zusammen und begleiten Patienten bei Überweisungen, um ihnen ein wenig Sicherheit zu geben. Und wir werden es hoffentlich schaffen, dass alle Patienten ihre medizinische Behandlung fortsetzen können. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.