«Wer die illegalen Gefängnisse überlebt, ist finanziell, physisch und psychisch zerstört»
© Christophe Biteau/MSF
Libyen6 Min.
Unser Landeskoordinator Christophe Biteau erzählt von der erschütternden Situation von Geflüchteten und Migranten in und ausserhalb der libyschen Haftanstalten, die wir durch unsere Hilfe mitbekommen.
Er sagt: «Die meisten der über 50.000 bei UNHCR in Libyen registrierten Menschen stammen aus Syrien und sind seit einiger Zeit im Land. Aber es gibt noch viel mehr Flüchtlinge und Asylsuchende, die durch Libyen reisen und unter dem Radar bleiben. Sie gehören zu denen, die entführt, eingesperrt, manchmal sogar ermordet werden. Es ist schwierig, ihre Zahl zu schätzen, aber einigen Beobachtern zufolge gibt es 700.000 Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende im Land.» Seine Erfahrung basiert auf unserer Arbeit in der Region Bani Walid und in Haftanstalten in Khoms und Misrata.
Von europäischer, afrikanischer und spezifischer Seite wurde immer wieder die Absicht bekundet, das Leid der Migranten und Flüchtlinge in Libyen zu beenden. Was ist in dieser Hinsicht geschehen?
Die wichtigste Massnahme der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bestand hauptsächlich darin, die sogenannten «freiwilligen» Rückführungen von Menschen aus Libyen in ihre Herkunftsländer zu verstärken. Im aktuellen Kontext sollte zwischen zwei verschiedenen Situationen unterschieden werden. Es gibt Migranten in «offiziellen» Zentren und Migranten, die entführt und in illegalen Gefängnissen festgehalten werden. Im November gehörten fast 17.000 Häftlinge der ersten Kategorie an. Ihre sogenannte «Evakuierung im Notfall» begann vor einigen Monaten und seit November 2017 wurden rund 15.000 von ihnen repatriiert. Eine positive Entwicklung, wenn Menschen, die in Libyen gefangen sind, wirklich nach Hause zurückkehren wollen. Gleichwohl müssen wir die Freiwilligkeit dieser Repatriierungen in Frage stellen, weil die Menschen angesichts willkürlicher Inhaftierungen keine Wahl haben. Was das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) betrifft, so hat die Organisation gerade mehr als 1.000 der am stärksten gefährdeten Menschen unter den Flüchtlingen aus dem Land evakuiert. Die meisten wurden nach Niger gebracht, wo sie darauf warten, dass ihnen ein anderes Land Asyl gewährt.
Was hat sich vor Ort verändert?
Die wichtigste Veränderung, die wir beobachten konnten, ist ein Rückgang der Anzahl der Personen in offiziellen Haftzentren auf 4.000 bis 5.000. Dies hat die Haftbedingungen etwas weniger unerträglich gemacht als vor sechs Monaten, vor allem die durch Überfüllung verursachten Probleme. Aber sehr viele Probleme müssen noch gelöst werden. Davon bekommen die wenigen internationalen Organisationen, die im Land eingesetzt werden nichts mit, weil sie fast ausschliesslich in Tripolis stationiert sind. Unsere Teams, die medizinische Versorgung und Unterstützung in mehreren libyschen Hafteinrichtungen anbieten, treffen Gefangene, von denen sie hören, dass sie immer noch auf Hilfe warten und nicht wissen, was aus ihnen werden wird.
Aber vor allem wird nichts unternommen, um das Leid der Migranten und Geflüchteten, die sich hauptsächlich ausserhalb der offiziellen Haftanstalten befinden, zu beenden. Darüber hinaus werden Menschen, die ihr Leben auf dem Mittelmeer riskieren, um Libyen zu verlassen, mit Hilfe europäischer Staaten weiterhin in das Land zurückgebracht, in dem sie jeglicher Art von Gewalt ausgesetzt sind.
Nehmen wir das Beispiel eines jungen Menschen, der das Mittelmeer überquert und dessen Boot von der libyschen Küstenwache abgefangen wird. Was passiert in dieser Situation?
Menschen, die von der libyschen Küstenwache auf See abgefangen wurden, werden an der libyschen Küste ausgeladen und in Untersuchungsgefängnisse gebracht. Teams von UNHCR und IOM haben die zwölf Aus- und Einschiffungsstellen, zu denen sie Zugang haben, untereinander aufgeteilt. Dort führen sie Gesundheitsuntersuchungen durch. Die Überlebenden werden dann in Haftzentren gebracht – zumindest theoretisch. Es gibt keine spezielle Bestimmung für die am stärksten gefährdeten Menschen, die eigentlich eine Sonderbehandlung erhalten und nicht willkürlich inhaftiert werden sollten. Wir erleben weiterhin, dass Kinder, die auf abgefangenen Booten waren, in Haftlager gebracht werden. Die Unterscheidung zwischen offiziellen und illegalen Netzwerken ist auch nicht immer so klar. Im Grunde kann alles passieren. Jemand, der vom Meer nach Libyen zurückgebracht wurde, kann sehr schnell wieder in den Klauen von Menschenhändlern landen, und die Folter beginnt von neuem.
Für viele Menschen ist die Rückkehr in das Land, aus dem sie stammen, keine Option. Kriminelle Netzwerke sind ihre einzige Alternative, um in Europa Zuflucht und ein besseres Leben zu finden. Diese Netzwerke, deren Zerschlagung sich Europa auf die Fahnen schreibt, haben ein Monopol darauf, die Reisen der sehr gefährdeten Menschen zu organisieren. Sie haben dazu keine Alternative. Warum sind die Eritreer, deren Asylanträge in Europa zu 90 Prozent akzeptiert werden, gezwungen, solche gefährlichen und beschwerlichen Reisen zu unternehmen? Es führt zu noch mehr Leid, wenn alles darangesetzt wird, Menschen auf der Flucht von der Reise nach Europa abzuhalten oder sie nach Libyen zurückzubringen.
Ich habe zwei Monate, drei Wochen, einen Tag und zwölf Stunden Hölle durchgemacht
Wie verbreitet ist der Menschenhandel? Man spricht von einer Industrie der Entführungen und Folter in Libyen.
Wir können nicht sagen, wie viele Menschen in illegalen Gefängnissen festgehalten werden. Aber Entführungen von Migranten und Flüchtlingen und die Anwendung von Folter, um Lösegeld zu erpressen, sind nicht nur weit verbreitet, sondern nehmen wahrscheinlich sogar zu. Auf diese Weise werden Einkommensausfälle in lokalen Wirtschaftszweigen ausgeglichen, die dadurch entstehen, dass libysche Banken Mittel fehlen. Wer die illegalen Gefängnisse überlebt, ist finanziell, physisch und psychisch zerstört. Sollte es für Betroffene je möglich sein, sich davon zu erholen, dann brauchen sie dafür Zeit und Unterstützung.
Ärzte ohne Grenzen (MSF) hat keinen Zugang zu illegalen Gefängnissen. Aber wir helfen Menschen, denen es gelingt, zu entkommen. Wir arbeiten zum Beispiel mit einer lokalen Nichtregierungsorganisation (NGO) zusammen, um die medizinische Grundversorgung in einem Migrantenheim in der Region Bani Walid zu gewährleisten. Einige Migranten und Migrantinnen haben mehrfach gebrochene Beine, Brandverletzungen und von Schlägen gezeichnete Rücken. Libysche Akteure, die mit uns arbeiten, sind genauso entsetzt wie wir. Wir können zwar unmöglich sagen, wie viele Migranten und Flüchtlinge in Libyen ankommen, durch die Region Bani Walid müssen und diesen Alptraum ertragen. Aber fest steht, dass die Zahl der Überlebenden, die wir bei unseren Konsultationen behandeln, genauso hoch ist wie im vergangenen Jahr. Erst letzte Woche erzählte uns ein Überlebender, der am Vortag in der Unterkunft angekommen war: «Ich habe zwei Monate, drei Wochen, einen Tag und zwölf Stunden Hölle durchgemacht.» Obwohl ihr Gesundheitszustand oft einen Krankenhausaufenthalt erfordert, verzögert sich die Aufnahme nicht selten, weil öffentliche Krankenhäuser uns dazu verpflichten, die Patienten zunächst auf ansteckende Krankheiten zu untersuchen. Jeden Monat übergeben wir 50 Leichensäcke an Mitarbeiter einer lokalen NGO, die im Gebiet von Bani Walid tot aufgefundene Migranten und Geflüchtete angemessen beerdigen wollen. Sie sagen, dass sie seit vergangenem Jahr mehr als 730 Leichen begraben haben. Das entspricht aber nicht der Gesamtzahl der Menschen, die dieses Gebiet durchquert haben und an den dort erlittenen Grausamkeiten und Gefahren gestorben sind. Die Todesrate ist definitiv viel höher
© Christophe Biteau/MSF