«Wir haben sehr verletzliche Menschen an Bord, sie sind erschöpft»
© Kenny Karpov/SOS MEDITERRANEE
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Aloys Vimard, Projektleiter von MSF auf der Aquarius, berichtet von der aktuellen Situation:
«Wir befinden uns derzeit in internationalen Gewässern zwischen Malta und Sizilien. Wir haben 629 Menschen an Bord, unter ihnen 11 kleine Kinder, 123 unbegleitete Minderjährige und mehr als 80 Frauen, darunter sieben Schwangere. Das Schiff ist überfüllt, unsere Kapazitätsgrenze ist überschritten. Wir haben sehr verletzliche Menschen an Bord, die meisten von ihnen sind erschöpft. Sie sind jetzt schon seit mehr als 48 Stunden auf dem Meer.
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Der gesundheitliche Zustand der Menschen ist derzeit stabil, bei einigen unserer Patienten könnte er sich ohne weitergehende medizinische Behandlung aber verschlechtern. Wir haben mehrere Menschen in kritischem Zustand behandeln müssen, darunter einige, die fast ertrunken wären, und andere mit Verätzungen. Wir mussten einige Menschen wiederbeleben. Wir beobachten ihren Zustand weiterhin. Diejenigen, die Wasser geschluckt haben, könnten rasch Lungenbeschwerden entwickeln. Diese Menschen sollten sofort in einen sicheren Hafen gebracht werden.
Wir haben fünf Mediziner an Bord, darunter drei Pflegefachpersonen, einen Arzt und eine Hebamme. Wir sind im Moment ausreichend ausgerüstet, um alle an Bord zu behandeln. Es gibt derzeit keine Patienten in kritischem Zustand, die sofort in ein Spital evakuiert werden müssten, aber wenn sich nichts ändert, brauchen wir bald neue medizinische Ausrüstung. Mit so vielen Menschen auf einem überfüllten offenen Deck, wo sie Sonne und Wasser ausgesetzt sind, sind wir besorgt, dass Hitzschläge und Dehydrierung auftreten können.
Wir hatten genug Lebensmittel bis Montagabend. Ein Schiff aus Malta hat uns nun einigen Nachschub geliefert, aber er reicht nur für eine Mahlzeit. Spanien hat uns einen Hafen zum Anlaufen angeboten, doch bis dorthin brauchen wir mehrere Tage. Wir sind kein Passagierschiff. Wir fordern dringend, die Menschen im nächstgelegenen sicheren Hafen an Land gehen zu lassen.
Wir sind sehr offen mit den Menschen an Bord. Es ist wichtig, dass sie wissen, was vor sich geht. Wir haben ihnen gesagt, dass wir eine humanitäre Organisation sind, dass wir sie unter keinen Umständen nach Libyen zurückbringen werden und dass wir sie in einen sicheren Hafen bringen werden.
Es wäre am besten, wenn die italienischen Behörden ihren Job machen und das internationale Seerecht respektieren würden. Das heisst, dass sie uns so schnell wie möglich einen Hafen zuweisen und wir alle Geretteten an einen sicheren Ort bringen können. Das schlechteste Szenario wäre, wenn wir ohne weitere Anweisung auf See bleiben müssten, in einem überfüllten Schiff mit ängstlichen Menschen an Bord, die mit jedem weiteren Tag immer weiter in Gefahr geraten.
Wir sind extrem besorgt darüber, wie schwierig es geworden ist, Menschen aus Seenot zu retten. Wir sind humanitäre Helfer, die schlicht hier sind, um Menschenleben zu retten und die Menschen in Sicherheit zu bringen. Das geschieht in völliger Übereinstimmung mit dem internationalen Seerecht und der Aufgabe der Seenotrettungszentren.
Die europäische Abschreckungspolitik hat dazu geführt, dass die Zahl der Menschen, die nach Europa gelangen, deutlich gesunken ist. Doch in den Sommermonaten, sobald das Wetter sich verbessert, legen mehr Boote von der libyschen Küste ab. Das geschieht aktuell – wir haben allein in der Nacht auf Sonntag 229 Menschen aus Seenot gerettet und 400 Menschen aufgenommen, die von italienischen Schiffen der Marine und Küstenwache sowie einem Handelsschiff gerettet worden waren. Zudem haben wir gehört, dass mehrere weitere Boote in internationalen Gewässern in Seenot waren und wir wissen, dass ein Schiff der italienischen Marine mehr als 800 Menschen gerettet und an Bord genommen hat.
Die Menschen an Bord fragen uns, warum das Schiff nicht weiterfährt und was nun passiert. Ein Mann drohte damit, über Bord zu springen. Er sagte, er habe Angst, dass er nach Libyen zurückgebracht würde, und dass er das Vertrauen in uns verloren habe. Die Menschen werden immer verzweifelter.»
© Kenny Karpov/SOS MEDITERRANEE