«Zeichnen schafft eine Vertrauensbasis»

Mit dieser Illustration möchten wir gerne den Beitrag zur Reise von Samira Belorf starten. Das Bild wurde im Geburtszentrum von Burj al-Barajneh gezeichnet, während einer Patientin eine Infusion gelegt wird.

Libanon5 Min.

Die Schweizer Illustratorin Samira Belorf besuchte im Februar 2022 mehrere Projekte von Ärzte ohne Grenzen im Libanon. Die humanitäre Hilfsorganisation bietet dort Geflüchteten und Libanes:innen medizinische und psychologische Unterstützung. Samira war zwei Wochen lang Teil des Teams. Auf ihrer Reise sprach sie mit Haushälterinnen, die ausgebeutet wurden, traf Geflüchtete aus Syrien und erhielt einen Einblick in den Alltag der Menschen im Land. Ein illustrierter Erfahrungsbericht:

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Tag 1-3 Ankunft im Libanon

Beirut lag im Dunkeln, als Samira Anfang Februar am Flughafen der Millionenstadt landete. Keine Strassenlaternen, keine Schaufensterbeleuchtung – komplette Dunkelheit empfing sie. Im Gepäck der Illustratorin und Comic-Zeichnerin aus Basel befanden sich sechs leere Notizbücher, bereit, mit den Geschichten und Gesichtern von Patient:innen und Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen gefüllt zu werden. Auf Einladung der Hilfsorganisation begleitete Samira zwei Wochen lang das Team vor Ort und besuchte verschiedene ihrer Projekte im ganzen Land. Mit ihren Zeichnungen und persönlichen Porträts möchte sie das Leben der Menschen im Land nacherzählen. Die Werke werden anschliessend am internationalen Comic-Festival Fumetto in Luzern ausgestellt.

Die erste Station auf ihrer Reise war ein Hilfsprojekt von Ärzte ohne Grenzen für Migrant:innen, darunter vorwiegend Haushaltsangestellte, die unter dem Kafala-System in den Libanon einreisen. Einem System, das auf einer Reihe von Gesetzen und Gepflogenheiten basiert, die ausländische Arbeiter:innen in ein Verhältnis der Unterordnung und Abhängigkeit gegenüber dem Arbeitgeber stellen. Die Migrant:innen sind nicht durch allgemeines Arbeitsrecht geschützt. So fördert das Kafala-System Ausbeutung und Misshandlung. Im  Clemenceau-Spital in Beirut traf Samira auf die ehemalige Hausangestellte Tima aus Äthiopien. Tima lebt bereits seit 14 Jahren im Libanon.

Tima heisst eigentlich Fatima. Ihren Spitznamen mag sie aber lieber. Sie ist in Äthiopien geboren und kam 2008 in den Libanon, wo bereits ihre Nichte lebte. Dort wurde sie als Hausangestellte an eine achtköpfige Familie vermittelt. Ihr Pass wurde ihr bei der Ankunft abgenommen. Fortan musste sie rund um die Uhr arbeiten, wurde geschlagen und beschimpft. Während dreieinhalb Jahren hatte sie keinen Tag frei und durfte auch nicht mit anderen Äthiopier:innen sprechen. Heute betreibt sie aktiv Aufklärungsarbeit, um Frauen in ähnlichen Situationen auf die Umstände aufmerksam zu machen. Nebst einem Podcast, den sie lanciert hat, eröffnete sie mithilfe einer privaten Spende auch einen Kindergarten für die Betreuung der Kinder von Hausangestellten. «Ihre Geschichte hat mich sehr inspiriert», sagt Samira.

Zu Besuch in Timas Wohnung in Beirut. Beirut, 03.02.22

Zu Besuch in Timas Wohnung in Beirut. Beirut, 03.02.22

© Mohammad Mardini/MSF

Tag 4-8 Projekte in Südbeirut

Auf der Reise durch den Libanon wurde Samira von Mohammad aus dem Team von Ärzte ohne Grenzen begleitet. Er stellte sie den Personen in den Projekten vor und klärte jeweils ab, ob die Anwesenden mit Zeichnungen und Fotos einverstanden waren. Dabei übernahm er auch die Rolle des Dolmetschers und übersetzte vom Arabischen ins Englische. «Der Kontakt zu den Menschen war sehr einfach herzustellen», erzählt Samira, «sobald sie gesehen haben, wie ich zeichne, sind sie auf mich zugekommen. Das schuf eine Vertrauensbasis.»

Während die Eltern von ihrer Situation erzählten, zeichneten die Kinder oft gemeinsam mit Samira. Bekaa-Tal.

Während die Eltern von ihrer Situation erzählten, zeichneten die Kinder oft gemeinsam mit Samira. Bekaa-Tal.

© Mohammad Mardini

Im Geflüchtetencamp Shatila im Süden von Beirut betreibt Ärzte ohne Grenzen ein Spital. Dort werden Kranke, Verletzte und insbesondere auch schwangere Frauen kostenlos behandelt. Samira traf auch auf einen 17-jährigen Syrer, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Sie hat seine, aber auch die Geschichte von anderen Patient:innen aufgezeichnet. «Das Zeichnen ermöglichte eine Art Zwischenebene. Die Patient:innen sind mitten in einer Untersuchung beim Arzt. Sie schauen zu, wie ich zeichne und ich schaue sie an, um sie zu zeichnen. So entsteht eine Art Kommunikation ohne Worte.»

Den Titel ihrer Reportage «Wenn die Zeit nicht alle Wunden heilt» hatte Samira schon vor Antritt ihrer Reise ganz bewusst ausgesucht. Ihre Erklärung im Video:

    Tag 9-11 Bekaa-Tal

    Von der Hauptstadt Beirut aus reiste Samira ins Bekaa-Tal im Osten des Landes

    Von der Hauptstadt Beirut aus reiste Samira ins Bekaa-Tal im Osten des Landes

    © Samira Belorf

    Von Beirut aus ging es mit einer sechsstündigen Autofahrt weiter bis ins Bekaa-Tal, einer Ebene im Osten des Libanon. In der dortigen Ortschaft Arsal wohnen die Menschen in kleinen, teils weit voneinander entfernt liegenden Siedlungen. Um den Bewohner:innen Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, bietet Ärzte ohne Grenzen zweimal täglich an der Hauptstrasse einen Transportservice zur Klinik in Arsal an. Dort führen die Teams der Organisation Operationen durch und begleiten Geburten.

    Konsultation in einer von Ärzte ohne Grenzen geführten Klinik

    Konsultation in einer von Ärzte ohne Grenzen geführten Klinik.

    © Samira Belorf

    In der nahe von Arsal gelegenen Stadt Hermel hat sich die Zahl der libanesischen Patient:innen mit einer chronischen Krankheit in den letzten Jahren mehr als verdoppelt, was auch daran liegen könnte, dass sich viele Menschen im Libanon die Arztkosten nicht mehr leisten können. «Ärzte ohne Grenzen ist in Hermel die erste und auch die einzige Anlaufstelle. Medikamente sind anderswo sehr teuer und schwierig zu kriegen. Die Klinik bietet ihnen die Sicherheit, dass sie medizinische Beratungen sowie Medikamente erhalten.»

    Auf dem Rückweg in die Schweiz hielt Samira ihren Rucksack mit den gefüllten Notizbüchern umklammert – nicht mal der Gepäckablage im Flugzeug vertraute sie ihre Werke an. Zurück in ihrem Atelier in Basel scannt Samira ihre Skizzen ein und bearbeitet sie mit verschiedenen Programmen auf ihrem Computer, bevor sie für die Ausstellung am internationalen Comic-Festival Fumetto, welches jährlich in Luzern stattfindet, gedruckt werden.

    «Auf meiner Reise entdeckte ich eine neue Art, Geschichten zu erzählen. Ich habe einen Weg gefunden, um illustrative und informative Elemente zusammenzubringen», erzählt Samira. Mit ihrer illustrierten Reportage möchte sie aber nicht selbst die Geschichten erzählen, sondern den porträtierten Personen eine Möglichkeit dazu geben.

    Ein Kulturschock, wie ihn ihr Umfeld befürchtete, blieb bei der Rückkehr aus: «Ich verarbeitete die Eindrücke in meinen Zeichnungen. Ich war vor allem sehr positiv überrascht: Davon, wie gut die Abläufe in den Kliniken funktionieren und wie liebevoll die Patient:innen betreut werden.»

    Samiras Werke werden vom 2. bis zum 10. April 2022 am Comic-Festival Fumetto in Luzern zu sehen sein. Die Vernissage findet am vom Fumetto organisierten «Satellitenspaziergang» am 23. März statt.

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    Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) leistet im Libanon seit 1976 allgemein- und fachmedizinische Hilfe für Geflüchtete, Migrant:innen und die lokale Bevölkerung. Rund 600 Mitarbeitende sind an rund zehn Orten im Land tätig. Die Teams bieten kostenlos psychologische Hilfe, Leistungen in den Bereichen sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie Pädiatrie, Impfungen und die Behandlung chronischer Krankheiten an.