1 Jahr Seenotrettung mit der Geo Barents: Ertrinken lassen als Folge der europäischen Abschottungspolitik

Menschen auf einem Holzboot, das zu sinken droht, werden von unseren Teams am 11. Mai 2022 im zentralen Mittelmeer gerettet.

Libyen2 Min.

Ein Jahr nach dem Start des jüngsten Rettungseinsatzes auf dem Mittelmeer zieht Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) eine traurige Bilanz. Von den mehr als 3000 Menschen, die seit Juni 2021 mit dem gecharterten Schiff Geo Barents gerettet werden konnten, berichteten Hunderte von Gewalterfahrungen. Die meisten haben Folter, Entführungen oder willkürliche Inhaftierungen in Libyen erlebt. Dies geht aus einem Report hervor, den Ärzte ohne Grenzen jüngst veröffentlicht hat. Einmal mehr fordern wir ein Ende der europäischen Abschottungspolitik.

Allein 2021 wurden 3138 Menschen gerettet, davon 34 Prozent Kinder und Jugendliche

Die Geo Barents, das Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen, war im vergangenen Jahr elfmal auf dem Mittelmeer unterwegs. Die MSF-Teams retteten auf insgesamt 47 Einsätzen 3138 Menschen und führten 6536 medizinische Konsultationen durch. Zehn Menschen wurden tot aus dem Meer geborgen. Die überwiegende Mehrheit der Überlebenden war zuvor aus Libyen geflohen, stammt aber ursprünglich aus Ländern mit langjährigen Konflikten, Krieg oder extremer Armut. Dazu gehören Eritrea, Sudan, Elfenbeinküste, Bangladesch und Ägypten. 

Unter den Geretteten waren 34 Prozent Kinder und Jugendliche, 89 Prozent von ihnen unbegleitet, wie aus dem Report hervorgeht. 265 Personen berichteten von Gewalt, Folter oder Misshandlung. Die Crew an Bord registrierte ausserdem 620 Vorfälle von Gewalt, die gegen die geretteten Menschen verübt oder von ihnen beobachtet wurde. Ärzte ohne Grenzen geht von einer noch weit höheren Dunkelziffer aus.

Gewalt gegen Geflüchtete

Ein Grossteil der Vorfälle ereignete sich, nachdem die Geflüchteten von der libyschen Küstenwache abgefangen und inhaftiert wurden. Ihren Berichten zufolge handelte es sich bei den Tätern in 34 Prozent der Fälle um Wachleute in den Haftanstalten, in 15 Prozent um Mitarbeitende der libyschen Küstenwache, in elf Prozent um nichtstaatliche oder militärische Polizeikräfte und in zehn Prozent der Fälle um Schmuggler oder Schleuser. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen dokumentierten ausserdem ein hohes Mass an Gewalt gegen Frauen und Kinder – 29 Prozent der Opfer waren minderjährig, das jüngste von ihnen acht Jahre alt. 18 Prozent der Opfer waren Frauen. Am häufigsten wurden Verbrennungen, Knochenbrüche, Kopfwunden, Verletzungen im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, stumpfe Traumata und psychische Störungen registriert. 

 

Am Abend des 11. Mai 2022 retteten unsere Teams 29 weitere Personen von einem in Seenot geratenen Schlauchboot, ebenfalls in der maltesischen Search and Rescue Zone (SAR).

Am Abend des 11. Mai 2022 retteten unsere Teams 29 weitere Personen von einem in Seenot geratenen Schlauchboot, ebenfalls in der maltesischen Search and Rescue Zone (SAR).

© Anna Pantelia/MSF

Traurige Rekorde: Zurückgedrängt oder auf dem Mittelmeer gestorben

«2021 markiert gleich zwei traurige Rekorde, die das Scheitern der europäischen Abschottungspolitik aufzeigen», sagt Marie von Manteuffel, Expertin für Migration bei Ärzte ohne Grenzen:

Im vergangenen Jahr sind besonders viele Menschen auf dem Mittelmeer gestorben. Gleichzeitig sind 32 000 Menschen von der libyschen Küstenwache teils gewaltsam nach Libyen zurückgedrängt worden – so viele wie noch nie. Die Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten führt dazu, dass immer mehr Menschen auf dem Mittelmeer sterben und zugleich mehr Geld in den Menschenhandel fliesst.

Marie von Manteuffel, Expertin für Migration bei Ärzte ohne Grenzen

«Das zentrale Mittelmeer ist nur ein Abschnitt auf der Reise vieler Geflüchteten», sagt Manteuffel. «Zuvor mussten die Menschen teils schutzlos zu Fuss die Sahara durchqueren, nur um aus Libyen wieder in das südliche Nachbarland Niger abgeschoben zu werden. Oder aber sie wurden in unwürdigen libyschen Internierungslagern ohne rechtliche Grundlage monate- oder sogar jahrelang festgehalten, gefoltert und misshandelt. Wir fordern, dass politische Antworten auf den dringenden Bedarf der Betroffenen gefunden werden.»

Den vollständigen Bericht (auf Englisch) finden Sie hier.

Ärzte ohne Grenzen rettet seit 2015 Menschen im zentralen Mittelmeer. Unsere Teams waren bislang auf acht Schiffen aktiv – allein oder in Kooperation mit anderen Akteuren. Insgesamt waren sie an der Rettung von 80 000 Menschen auf dem Mittelmeer beteiligt.