Ahmed: «Purer Zufall, ob ich überlebe oder sterbe»
Syrien3 Min.
Fünf Jahre nach Ausbruch des Syrien-Konflikts veröffentlicht MSF persönliche Berichte von Syrerinnen und Syrern, die vor der Gewalt in ihrem Land geflohen sind. Sie alle lebten friedlich mit ihrer Familie, als der Bürgerkrieg sie überrumpelte und zwang, den Weg ins Exil anzutreten.
Der 26-jährige Ahmed aus Syrien ist verantwortlich für die Apotheke in Kilis in der Türkei. Derzeit ist er im MSF-Programm tätig, das über 15 syrische Spitäler und Gesundheitszentren mit Medikamenten und medizinischem Bedarfsmaterial versorgt und Verteilungen von lebenswichtigen Gütern an Vertriebene innerhalb Syriens organisiert. Ahmed, der die Grenze selbst täglich überquert, wird immer wieder Zeuge davon, wie gross die Not jener ist, die versuchen zu fliehen.
Zehntausende Menschen sind auf der Flucht, und einige haben sich in der Nähe unseres Spitals in Bab al-Salameh, auf der syrischen Seite der Grenze, niedergelassen. Diese Menschen wissen nicht, wo sie nächtigen sollen und die meisten landen in der ersten Nacht auf der Strasse. Sie müssen ohne Toilette und fliessendes Wasser auskommen und erhalten keinerlei Hilfe.
Auch unsere Kollegen mussten ihre Familie zusammentrommeln und ihr Dorf verlassen und sich dann mit tausenden anderen auf den Weg in die benachbarte Türkei machen. Etwa fünfzig unserer Mitarbeitenden mussten mit ihrer Familie fliehen und sich vorübergehend in Bab al-Salameh niederlassen. Dort leben sie entlang der Grenze in Lagern in Zelten. Am ersten Tag mussten wir unsere Tätigkeiten im Spital reduzieren, weil so viele Menschen dort Hilfe benötigten.
Ich kann nicht genau sagen, wie viele Menschen auf der Flucht sind. An jenem Tag waren es mindestens 500 Familien am Hauptgrenzübergang – aber das sind nur diejenigen, die ich gesehen habe. Man hört, dass es noch viel mehr Menschen bei inoffiziellen Übergängen hatte.
Gestern sprach ich mit Vertriebenen über die Art der Hilfe, die sie benötigen. «Wir sind nicht hierhergekommen, um in Zelten auszuharren», sagten sie mir. «Wir wollen einfach in die Türkei einreisen.» Sie haben weder medizinische Unterstützung noch ein richtiges Obdach. Es gibt nicht genügend Zelte und die vorhandenen Zelte wurden nicht rechtzeitig aufgestellt, um so viele Neuankömmlinge aufzunehmen.
Im MSF-Spital in Bab al-Salameh sind viele, die normalerweise in der Apotheke arbeiten, in der Logistik tätig. Sie sind zuständig, dass Medikamente und medizinisches Material von A nach B gebracht werden, denn in diesem Bereich ist der Bedarf am grössten. Vor einer Woche haben wir eine Auslieferungstour rund um die Stadt Aleppo abgeschlossen. Wir haben fünf Gesundheitszentren, fünf Notaufnahmen und fünfzehn Spitäler in Aleppo und Umgebung für drei Monate lang versorgt. Zum Glück wurden wir damit fertig, bevor die Strasse blockiert wurde.
Die türkische Regierung hat die Grenze für alle geschlossen; die einzige Ausnahme sind Ärzte. Die Grenzwächter haben eine Liste der medizinischen Mitarbeitenden, die sie durchwinken können. Dadurch ist es uns möglich, auf der syrischen Seite Hilfe zu leisten.
Ich bin mir bewusst, dass wir ein Angriffsziel sind. Spitäler und ihr Personal sind besonders gefährdet, gerade weil wir versuchen, Leben zu retten. Ich selbst habe mehrere Angriffe auf medizinische Einrichtungen überlebt. Wie an jenem Tag, als ein Helikopter fünf Fassbomben auf ein Spital im Norden Aleppos abwarf, in dem ich mich damals befand.
Personal und Patienten rannten wild in alle Richtungen, niemand wusste, wohin. In diesem Moment begriff ich, dass es purer Zufall ist, ob ich überlebe oder sterbe. Doch wenn wir Syrien verlassen, können wir unsere Aufgabe nicht mehr wahrnehmen. Und meine Aufgabe ist es, meinen Leuten zu helfen.