Asylstopp für syrische Geflüchtete: Ein vernünftiges Vorgehen?
© Mohammad Ghannam/MSF
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Schon zwei Tage nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad in Syrien kündigten mehrere Länder ihre Absicht an, syrische Asylanträge auf Eis zu legen. Darunter Belgien, Deutschland, Finnland, Griechenland, Irland, die Niederlande, Norwegen, Polen, Schweden, Österreich, das Vereinigte Königreich und die Schweiz. Frankreich gibt sich aufgrund der unbeständigen Lage nach wie vor abwartend, während Österreich die Ausweisung bestimmter syrischer Staatsangehöriger in Erwägung zieht, die sich bereits im Land aufhalten. Angesichts der aktuell unübersichtlichen Lage halten es einige Kommentator:innen für «vernünftig», die weitere Entwicklung erst einmal zu beobachten. Zu hinterfragen sind jedoch Massnahmen, die letztlich darauf abzielen, das Asylrecht oder die Zahl neu ankommender Geflüchteter zu beschränken. Insbesondere, da es nach internationalen Richtlinien untersagt ist, Menschen in Regionen zurückzuschicken, wo ihnen Folter, Verfolgung oder gar der Tod drohen.
In Syrien dauern die Spannungen und Kämpfe sowie die täglich stattfindenden Luftschläge ausländischer Streitkräfte an. Sowohl die politische Zukunft als auch die Stabilität des Landes stehen auf tönernen Füssen. Somit lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt auch die Sicherheit hunderttausender Syrer:innen, die möglicherweise dereinst in ihre Heimat zurückkehren können, nicht garantieren. Zudem beruht das Recht auf Schutz im Rahmen eines Asylantrags auf der Beurteilung der Risiken, denen eine antragstellende Person im Herkunftsland ausgesetzt wäre. Es ist inakzeptabel und auch rechtswidrig, Angehörigen bestimmter Staaten dieses Recht zu verweigern. Asylverfahren und -entscheide für Personen zu sistieren, die sich bereits in einem Aufnahmegebiet befinden, ist für die Betroffenen mit grosser Unsicherheit sowie fehlendem Zugang zur Integration in den Arbeitsmarkt und menschenunwürdigen Lebensbedingungen verbunden.
In der Schweiz fordern gewisse politische Kreise bereits eine sofortige Rückführung von rund 28 000 syrischen Staatsangehörigen. Eine solche Massnahme wäre nicht nur aufgrund der aktuell unsicheren Entwicklung unhaltbar. Nicht vergessen werden darf nämlich auch das Gewaltrisiko, dem kurdische und alawitische Minderheiten sowie Personen, die früher als regimetreu galten, ausgesetzt sind.
Man kann die Aussetzung der Bearbeitung von Asylanträgen bei volatiler Sicherheitslage im Herkunftsland von Geflüchteten – auch im Hinblick auf eine mögliche Stabilisierung der Situation – zwar als routinemässiges Vorgehen betrachten. Doch die wachsende Zustimmung in der Politik für Rückführungen nach Syrien lässt befürchten, dass ein solches Vorgehen künftig als Blaupause bei der Migrationskontrolle in den europäischen Ländern dienen könnte.
Wenn die Schweiz ihrer humanitären Tradition treu bleiben will, muss sie weiterhin gewährleisten, dass syrische Staatsangehörige wie bisher einen Asylantrag stellen können und diese vor allem vor Ausschaffung schützen. Dass Anträge vorübergehend auf Eis gelegt werden, kann für die Geflüchteten auch bedeuten, dass sie über einen längeren Zeitraum unter unwürdigen Aufnahmebedingungen leben müssen. Dies haben wir insbesondere in den abgelegenen Aufnahmezentren in Griechenland festgestellt, wo wir Menschen versorgten, die unter den negativen Auswirkungen ihrer prekären Lebensbedingungen litten.
Über die Jahre haben wir erlebt, welch katastrophale Auswirkungen die Abschreckungs- und Eindämmungspolitik der europäischen Länder auf die Gesundheit von Geflüchteten und Migrant:innen sowie auf die Aufnahmegemeinschaften haben.
In den Gebieten nahe der Frontlinien im Jemen, in Syrien, im Irak, in Äthiopien oder in Afghanistan leistet Ärzte ohne Grenzen lebensrettende medizinische Versorgung. Unsere Teams erleben hautnah mit, wie Menschen versuchen, den Schrecken des Krieges zu entkommen und sich auf die Suche nach einer besseren Zukunft für ihre Familien und ihre Angehörigen machen. Auch wenn das aktuelle Vorgehen vernünftig sein mag, so darf es unter keinen Umständen Zwangsrückführungen in ein Land zur Folge haben, in dem mehrere hunderttausend Menschen ihr Leben verloren, wo willkürliche Inhaftierungen und Folter an der Tagesordnung waren und dessen Infrastruktur nach 13 Jahren eines der blutigsten Konflikte im 21. Jahrhundert völlig zerstört ist.
Stephen Cornish, Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen Schweiz
Christina Psarra, Generaldirektorin von Ärzte ohne Grenzen Griechenland
Die Originalversion dieses Artikels wurde in der Zeitung Le Temps, Ausgabe vom 27. Dezember 2024, veröffentlicht.
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