Brasilien: Vernachlässigte Bevölkerungsgruppen leiden unter katastrophalem Covid-19-Ausbruch

Prise de la température d’une patiente dans le centre d’isolement de Manaus. Manaus, Brésil, 3 juin 2020

Covid-1910 Min.

In Brasilien werden jeden Tag zwischen 15 000 und 30 000 Menschen mit Covid-19 diagnostiziert und Hunderte Menschen verlieren täglich aufgrund des Virus ihr Leben. Brasilien ist weltweit das am zweitstärksten von der Pandemie betroffene Land der Welt – die Weltgesundheitsorganisation registriert über 900 000 Erkrankte und 45 000 Todesfälle. Mehr Pflegefachpersonen als in jedem anderen Land der Welt sterben hier an Covid-19: fast 100 Pflegefachkräfte pro Monat.

Die Krankheit breitete sich von grossen Städten wie Rio und São Paulo auf abgelegenere Gebiete wie den Bundesstaat Amazonas aus. Besonders bedroht sind die verletzlichsten und am stärksten vernachlässigten Menschen in den Slums und Favelas, Obdachlose sowie indigene Gemeinschaften.

Gezieltere Covid-19-Massnahmen seitens der Regierung dringend nötig

Ärzte ohne Grenzen hat mit sechs Covid-19-Notfalleinsätzen in den Bundesstaaten Amazonas und Roraima sowie in Rio de Janeiro und São Paulo begonnen, stösst jedoch an ihre Kapazitätsgrenzen. Gezieltere Covid-19-Massnahmen seitens der Regierung sind nötig, um die Gemeindevorsteher, lokale Organisationen und Mitarbeitende, die an vorderster Front gegen die Epidemie kämpfen, zu unterstützen. Lokale Gruppen und Gesundheitspersonal benötigen direkte Hilfe und grundlegendes Material – aus Brasilien oder aus anderen Ländern.

Brasilien stösst bei der Bekämpfung des Covid-19-Ausbruchs auch mit den Tests an seine Grenzen. Diese finden nicht schnell genug statt. Das Land meldet 7 500 Tests pro 1 Million Einwohner – das ist rund zehn Mal weniger als in den USA (74 927 pro 1 Million). Die Regierung muss ihre Anstrengungen im Kampf gegen Covid-19 dringend verstärken, um eine Verschlimmerung der Lage zu verhindern.

Centre d’isolement de Manaus, hamac, soignant, patient

Im Isolationszentrum in Manaus können gleichzeitig 9 Familien aufgenommen und behandelt werden. Manaus, Brasilien, 3. Juni 2020

© Euzivaldo Queiroz/MSF

Ungleichheiten im Gesundheitssystem

«Es ist kein Zufall, dass Brasilien so stark unter dem Ausbruch leidet», sagt Ana de Lemos, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Brasilien. 

Wir wissen seit langem, dass es in Brasilien enorme Ungleichheiten gibt. Doch Covid-19 bringt ein Gesundheitssystem ans Licht, das geprägt ist von struktureller Ungleichheit und zahlreiche arme und obdachlose Menschen von der Gesundheitsversorgung ausschliesst.

Ana de Lemos, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Brasilien

«Regionen wie Amazonien leiden seit Jahrzehnten unter mangelnden Investitionen in das Gesundheitswesen. Auf staatlicher und lokaler Ebene wurden im Umgang mit der Pandemie zwar enorme Anstrengungen unternommen, doch es herrscht auch eine grosse Diskrepanz bei Richtlinien, politischen Massnahmen und dem allgemeinen Ansatz zwischen der Landesregierung und den Regionen», erklärt Ana de Lemos.

Hilfe für die Menschen in Amazonien

Der Bundesstaat Amazonas verzeichnet die höchste Sterberate durch Covid-19 in Brasilien. Das brasilianische Amazonasgebiet ist riesig und von indigenen Gemeinschaften bevölkert. Seit Jahren belasten Bergbau, Abholzung und Landwirtschaft die Region. Das Gesundheitssystem ist chronisch unterfinanziert. Die Ausbreitung von Covid-19 von den grösseren Städten auf das Amazonasgebiet überforderte das Gesundheitssystem.

Die Situation in Manaus

In den Spitälern von Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaats, ist die Situation unerträglich. «Covid-19 breitet sich schnell und unberechenbar aus», sagt Brice de le Vingne, MSF-Koordinator für die Covid-19-Programme.

Wir haben unsere Aufmerksamkeit von den Küstenstädten auf die grosse Amazonas-Stadt Manaus verlagert, als wir von Berichten über hohe Fallzahlen und Massengräber hörten. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation bereits katastrophal und unser kleines Team musste schnell identifizieren, wo unsere Hilfe am nötigsten gebraucht wird.

Brice de le Vingne, MSF-Koordinator für die Covid-19-Programme

Zu Beginn des Ausbruchs waren die Spitäler in Manaus völlig überlaufen. Es gab nicht genug Betten auf der Intensivstation und es mangelte an Personal für die vielen Patientinnen und Patienten mit starken Symptomen, die eine Sauerstoffbehandlung benötigten. Mehrere Wochen lang warteten Hunderte von Menschen in den Spitälern auf einen Platz auf der Intensivstation, während sich ihr Zustand verschlechterte. «Die vier grössten Spitäler in Manaus waren alle voll und die hart arbeitenden medizinischen Teams betreuten sehr kranke Menschen, die häufig zu spät eintrafen, um noch gerettet werden zu können», sagt Dr. Bart Janssens, MSF-Notfallkoordinator. «Viele der Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation starben und auch zahlreiche Mediziner wurden krank.» 

Um den Druck auf die Spitäler zu reduzieren und die bestehenden COVID-19-Behandlungskapazitäten zu ergänzen, eröffnete das Team von Ärzte ohne Grenzen im Spital 28 de Agosto ein Covid-19-Behandlungszentrum mit 48 Betten, das über eine Intensivstation und eine Abteilung für Patienten mit starken Symptomen verfügt. Die Organisation stellte spezialisiertes Intensivstation-Personal zur Verfügung – das teilweise bereits über Erfahrung mit der Behandlung von Covid-19 in anderen Ländern hat – und führte neue Protokolle für nicht-invasive Sauerstoffbehandlungen ein, wodurch die klinische Versorgung in einem sichereren Umfeld stattfinden konnte. Seit Beginn der medizinischen Aktivitäten am 28. Mai sind die Abteilungen von Ärzte ohne Grenzen zu mindestens 80 Prozent belegt. Auch wenn es noch zu früh ist, um Schlussfolgerungen zu ziehen, gibt es Anzeichen dafür, dass eine zunehmende Zahl von Patientinnen und Patienten geheilt werden kann, auch bei jenen mit sehr starken Symptomen.

In der geschäftigen Grossstadt Manaus mit ihren über zwei Millionen Einwohnern ist es oft schwierig, einen Sicherheitsabstand einzuhalten. Die Märkte, auf denen viele Händler von ausserhalb der Stadt ihre Ware anbieten, sind potenzielle Hotspots für die Übertragung des Virus. In Manaus leben rund 30 000 indigene Menschen, die 30 verschiedene Ethnien repräsentieren und 20 verschiedene Sprachen sprechen. Sie werden innerhalb des Gesundheitswesens, insbesondere im Rahmen der meisten Covid-19-Programme, oft vernachlässigt.

Eines unserer Teams für Gesundheitsschulungen arbeitet mit lokalen Organisationen und Gemeindevorstehern zusammen, um diese Menschen zu informieren, wie sie sich vor Covid-19 schützen können, und führt aktiv Tests für potenzielle Covid-19-Patient*innen durch.

Centre d’isolement de Manaus, hamac, soignant, patient

Die indigene Gemeinschaft der Warao in Manaus ist besonders gefährdet. Viele leben in behelfsmässigen Unterkünften und es ist schwierig für sie, die notwendigen Hygienemassnahmen und Sicherheitsabstände einzuhalten.

© Euzivaldo Queiroz/MSF

Hilfe für die Gemeinschaft der Warao

Zusammen mit der Gemeinde betreibt Ärzte ohne Grenzen zudem ein medizinisches Zentrum für Patientinnen und Patienten der indigenen Gemeinschaft der Warao, die milde Symptome der Krankheit aufweisen. Die Warao leben seit Jahren in behelfsmässigen Unterkünften in Manaus, nachdem sie aus wirtschaftlichen Gründen von Venezuela nach Brasilien kamen.

Auch wenn es Anzeichen gibt, dass die Spitze der Ansteckungen in Manaus bereits überwunden ist, bleibt die Lage kritisch. Unter dem medizinischen Personal, das auf dem Höhepunkt der Krankheitsausbrüche nur schwer mit der Situation zurechtkam, gibt es einen grossen Bedarf an psychosozialer Betreuung.

Krise in ländlichen Gebieten Amazoniens am grössten

Die meisten Krankheitsfälle gibt es nun in den ländlichen Gebieten Amazoniens. Die indigene Bevölkerung ist besonders anfällig für die Krankheit und hat kaum Zugang zu Standardpräventionsmassnahmen wie persönlichem Schutzmaterial und Gesundheitsversorgung. Die Menschen müssen oft lange Distanzen bis zu den nächsten regionalen Spitälern oder Kliniken zurücklegen, wodurch auch das Risiko steigt, in öffentlichen Verkehrsmitteln andere Menschen mit dem Virus anzustecken. 

Von Manaus braucht man mit dem Boot 1,5 Tage nach Tefe. Tefe ist eine florierende Hafenstadt am Ufer des Amazonas. Als die Teams von Ärzte ohne Grenzen dort ankamen, waren sie schockiert.

Als ich für eine Einschätzung der Lage in das Spital kam, erzählte mir das Management, dass fast 100 Prozent der Covid-19-Patienten, die eine überlebensnotwendige Behandlung benötigten, gestorben seien. Es gab nicht genug Spezialisten für die sehr kranken Menschen, die ins Spital kamen.

Dr. Janssens, MSF-Notfallkoordinator

Während wir Vorbereitungen treffen, um den Menschen in den abgelegenen ländlichen Gegenden Amazoniens effizient und verantwortungsvoll zu helfen, haben wir in Tefe und São Gabriel da Cachoeira bereits mit einem Notfallprogramm begonnen. Das Spital in Tefe hat Ärzte ohne Grenzen um Hilfe gebeten. Wir werden uns um die Intensivstation kümmern – auf der viele Covid-19-Patienten sterben – und in sechs anderen Gesundheitszentren medizinische Hilfe leisten. Die Hoffnung ist, dass die indigene Bevölkerung so nicht mehr den langen Weg bis nach Manaus auf sich nehmen muss, um behandelt zu werden.

In São Gabriel da Cachoeira, einer Stadt weiter nördlich am Amazonas, wird Ärzte ohne Grenzen ein Behandlungszentrum eröffnen, um die Covid-19-Kapazitäten des Spitals auszuweiten. Zudem werden gemeinsam mit einer lokalen Organisation Aktivitäten durchgeführt, um die lokale Bevölkerung über das Thema zu informieren.

Höchste Neuinfektionsrate in der Hauptstadt des Bundesstaats Roraima

Boa Vista, die Hauptstadt des Bundesstaats Roraima, hält derzeit den traurigen Rekord der meisten landesweiten Neuinfektionen — mehr als ein Viertel der Bewohner*innen haben sich mit der Krankheit angesteckt.

Ärzte ohne Grenzen hat ihr Projekt für Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete aus Venezuela in Roraima um Covid-19-Vorbereitungen und Gesundheitsförderung ausgeweitet. Das öffentliche Spital ist vollkommen überfordert – Patientinnen und Patienten werden in den Korridoren behandelt oder ohne Behandlung nach Hause geschickt, weil das Spital voll ist. Als Reaktion auf den Ausbruch wurde ein neues Feldspital mit 700 Betten aufgebaut. Ärzte ohne Grenzen unterstützt das Spital bei Intensivstation-Schulungen und Betreuung.

«Wir befinden uns gerade in der akuten Phase der Covid-19-Krise in Boa Vista», so Michael Parker, MSF-Feldkoordinator des Projekts in Roraima. «Wir haben auf die Situation reagiert und unsere medizinische Arbeit über die Behandlung von Geflüchteten hinaus ausgeweitet – in dieser schwierigen Lage stellen wir Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte für das Feldspital zur Verfügung und kümmern uns um Schulungen sowie Betreuung bei schweren Fällen.»

Die vernachlässigten Bevölkerungsgruppen von Rio de Janeiro und São Paulo

Covid-19 dürfte über wohlhabendere Menschen nach Brasilien gelangt sein, die das Virus von Auslandsreisen mit zurück in die grösseren Städte wie Rio de Janeiro und São Paulo brachten. Mehrere Wochen verbreitete sich das Virus nur in wohlhabenden Wohngebieten. Doch dann griff die Krankheit auch auf ärmere Viertel über – mit verheerenden Folgen. Obdachlose Menschen, Drogenkonsument*innen, Menschen in Altersheimen und die Bewohnerinnen und Bewohner von Favelas und informellen Wohngebieten hatten bereits vor der Krise kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung. Covid-19 verschärfte die Situation noch, so dass diese Menschen der tödlichen Krankheit nun schutzlos ausgeliefert sind.

Die Situation in São Paulo

«Wie in vielen Ländern führt die Pandemie dazu, dass zahlreiche Menschen ihre Jobs verlieren», erklärt Dr. Ana Leticia Nery, MSF-Projektkoordinatorin in São Paulo. «In São Paulo gab es aber bereits 24 000 Obdachlose. Da das Gesundheitssystem kurz vor dem Zusammenbruch steht, ist es für diese verletzliche Bevölkerungsgruppe nun noch schwieriger, Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen. Durch die Pandemie rutschen immer mehr Menschen in extreme Armut ab und werden obdachlos. Drogenkonsum und -sucht, damit zusammenhängende medizinische Probleme wie Tuberkulose, Herzkrankheiten und HIV machen sie noch verletzlicher.»

Menschen zu sehen, die leiden und kaum Zugang zum normalen Gesundheitssystem haben, ist herzzerreissend. Aber wir können etwas tun, um diesen Menschen den Zugang zur gleichen Behandlung zu ermöglichen, die jede andere Bürgerin und jeder andere Bürger auch haben würde.

Dr. Ana Leticia Nery, MSF-Projektkoordinatorin in São Paulo

In São Paulo unterstützen die Teams von Ärzte ohne Grenzen Obdachlose im Stadtzentrum sowie Menschen in den Slums am Stadtrand, wo das Missverhältnis zwischen Reichtum und Armut eklatant ist. Gemeinsam mit lokalen Organisationen und der Stadtverwaltung von São Paulo führt Ärzte ohne Grenzen medizinische Aktivitäten in zwei Isolationseinrichtungen für Obdachlose durch, die positiv auf Covid-19 getestet wurden und leichte oder mässige Symptome aufweisen. Ärzte ohne Grenzen führt auch ein Schulungs- und Hilfsprogramm im Gesundheitsbereich für Menschen durch, die von Alkohol und Drogen abhängig sind.

Die Situation in Rio de Janeiro

In Rio de Janeiro haben Teams Mitarbeitende von Gesundheitszentren und Spitälern in der Infektionsprävention und -kontrolle geschult und in den Lokalen der Stadt für schutzbedürftige Personen Gesundheitsschulungen angeboten. Zudem überprüfen wir aktiv COVID-19-Symptome. In den Favelas von Rio war die ohnehin schon angespannte Gesundheitssituation nicht mehr haltbar – mehrere Gesundheitszentren mussten schliessen. Die Lebensbedingungen machen das Einhalten von Sicherheitsabständen fast unmöglich, so dass das Risiko einer Verbreitung des Virus hoch ist.

Ärzte ohne Grenzen führt an den meisten Projektstandorten eine Reihe von Massnahmen zur Gesundheitsförderung, Vorsorge und Diagnose durch und bietet medizinischen Einrichtungen und Pflegeheimen technische Beratung zur Infektionsprävention und -kontrolle an. Gleichzeitig verstärken unsere Teams die psychosoziale Unterstützung für medizinisches Personal, das aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate und der schmerzhaften Art und Weise, auf die viele Menschen an der Krankheit sterben, traumatisiert ist.

Ein Team prüft auch die Eröffnung einer Palliativstation in São Paulo, um Patienten, die zu krank sind, um in anderen Spitälern geheilt werden zu können, am Lebensende in Würde zu versorgen.

Kapazitätsgrenze erreicht

Unsere Teams suchen weiterhin nach Möglichkeiten, die Aktivitäten mit den lokalen Gesundheitsbehörden auszuweiten, stossen aber an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Es braucht dringend koordinierte nationale Anstrengungen, um den Ausbruch unter Kontrolle zu bringen.