DR Kongo: Alarmierende Zustände in den Vertriebenenlagern in Nizi
© MSF/Solen Mourlon
Demokratische Republik Kongo4 Min.
Bewaffnete Konflikte zwischen den rivalisierenden Volksgruppen Hema und Lendu prägten in den frühen 2000er Jahren den Nordosten der DR Kongo. Im Dezember 2017 überrollte eine neue Gewaltwelle die Region. Laut Schätzungen des Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) sind seither mehr als eine Million Menschen auf der Flucht.
Die genaue Zahl der Vertriebenen lässt sich aufgrund anhaltender Bevölkerungsbewegungen kaum erfassen. Hunderttausende Menschen leben bei Gastfamilien. Rund 200 000 Vertriebene haben sich spontan in informellen Siedlungen zusammengeschlossen. Dort gibt es weder Zugang zu Trinkwasser, noch zu Lebensmitteln oder medizinischen Leistungen.
Yvonne ist eine von Tausenden Vertriebenen, die zurzeit in Ituri leben: «Ich lebe mit meinem Sohn und sechs Enkelkindern in Tsé Lowi», erzählt sie. «Das ist ein Gelände für Vertriebene. Vor fast zwei Jahren flüchteten wir aus unserer Heimat. Bewaffnete überfielen unser Dorf, zündeten Häuser an und töteten unzählige Menschen auf brutalste Weise. Die Frau meines Bruders verlor an jenem Abend ihr Leben. Mein Haus brannten sie nieder. Wir hatten keine Wahl und liefen durch die Dunkelheit; mehr als die Kleider, die wir gerade trugen, konnten wir nicht mitnehmen. Drei Tage und drei Nächte streiften wir ziellos durch den Busch. Ich war ausser mir vor Angst. Am dritten Tag erreichten wir endlich diese Siedlung.» Die ältere Frau sitzt vor einer Strohhütte, ihre Füsse sind nackt, die Kleider zerfetzt.
In der Unterkunft ist einer ihrer Enkel dabei, das Feuer anzufachen, über dem ein Kochtopf brodelt. Die Hütte wirkt nicht besonders robust, schon ein kleiner Funke könnte grosse Gefahr bedeuten. Auch ist es schwer, sich vorzustellen, dass acht Personen in dem kleinen Raum, der Küche und Schlafzimmer zugleich ist, dauerhaft zusammenleben.
Menschenwürdig ist die Wohnsituation nirgendwo
Dutzende solcher Siedlungen gibt es, die in den Hügeln der Gesundheitszone Nizi eingebettet sind. Wer die staubigen Strassen hochfährt, kann nach jeder Kurve eine entdecken. Am Zustand und der Ausstattung der Häuser lässt sich ablesen, wann ein Camp errichtet wurde. In den neueren stehen hauptsächlich Strohhütten, ältere verfügen über richtige sanitäre Einrichtungen und Isolierplanen, die vor der Witterung schützen. Einige haben etwas mehr Glück und leben in von humanitären Akteuren bereitgestellten Unterkünften. Menschenwürdig ist die Wohnsituation nirgendwo. Die Hygienebedingungen sind schlecht, die Ernährungslage ebenso. Durchfallerkrankungen und Mangelernährung sind weit verbreitet, und die Kälte und Feuchtigkeit in den Hütten begünstigen Atemwegserkrankungen und Malaria – allesamt vermeidbare Krankheiten, die Tausende Kinder das Leben kosten. Gemäss aktuellen Erhebungen liegt die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren in vielen Siedlungen deutlich über dem Notfallgrenzwert.
«Wenn die Kinder krank werden, bringe ich sie in die Gesundheitsstation bei uns im Camp».
Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) betreibt in 19 von 24 Siedlungen im Bezirk Nizi solche Stationen. Jede dieser Stationen wird von einer ausgewählten Person aus der Gemeinschaft geleitet. Der oder die Verantwortliche wurde gezielt darin geschult, häufig vorkommende Krankheiten zu erkennen.
Mit MUAC-Armbändern können die Verantwortlichen am Oberarmumfang betroffener Kinder ablesen, ob eine Mangelernährung besteht. Sie untersuchen Erkrankte bei Fieber und Durchfall und führen Malaria-Schnelltests durch. Bei Bedarf verabreichen sie einfache Medikamente wie Paracetamol und Malariamittel und überweisen schwerwiegende Fälle in eines der sieben von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Spitäler in der Region.
Kinderstation ist oft überbelegt
In jeder medizinischen Einrichtung ist eine Pflegekraft von Ärzte ohne Grenzen anwesend, um die lokalen Mitarbeitenden zu unterstützen. Ist der Zustand eines Kindes besonders kritisch, wird es im Hauptspital in Nizi notversorgt, wo Ärzte ohne Grenzen eine Intensivstation, eine Kinder- und Ernährungsabteilung sowie einen Wärmeraum für Neugeborene betreibt. Ziel ist es, Kinder so früh wie möglich zu behandeln und so medizinische Komplikationen zu vermeiden. Der Bedarf in der Region ist immens und die Kinderstation oft überbelegt, sodass Ärzte ohne Grenzen die Anzahl Betten in der Kinderstation auf 56 erhöht hat.
In der winzigen Strohhütte, in der Yvonne mit ihrer Familie lebt, kann man kaum aufrecht stehen, und wenn es regnet, sind ihre Schlafplätze durchnässt. Immerhin stehen in Tse Lowi angemessene Latrinen zur Verfügung. Zudem bieten die Duschräume ein Mindestmass an Privatsphäre. Selbstverständlich ist das nicht: Im Flüchtlingscamp Kambe, das vor sieben Monaten von den Vertriebenenerrichtet wurde, gibt es gar keine Dusche und lediglich vier provisorische Latrinen für insgesamt 426 Familien.
Eine Toilette für 300 Menschen
«Das Lager Kambe teilt sich in vier Bereiche, sogenannte Blocks», erklärt der Verantwortliche Aimé Mave Dhesi. «Ich bin zuständig für Block 2, in dem mehr als 300 Menschen leben. Die kleine Hütte dort am Rand des Lagers ist unsere einzige Toilette. Da es keine Dusche gibt, warten wir mit dem Waschen immer, bis es dunkel ist. So kann uns niemand sehen. Ausserdem ist es schwer, genug Essen aufzutreiben. Die paar Schalotten, Kürbisse und Kartoffeln, die wir hier anpflanzen, reichen niemals für alle. Und zur nächsten Wasserstelle läuft man 45 Minuten. Viele Vertriebene helfen auf den Feldern der Einheimischen aus. So verdienen sie ein wenig Geld, ungefähr CDF 1000 (60 Rappen) am Tag, um ihre Familien zu ernähren. Wenn sie krank sind, bleibt der Lohn natürlich aus – und damit auch ihre nächste Mahlzeit.»
Ärzte ohne Grenzen versorgt Vertriebene in 34 Siedlungen in den Gesundheitszonen Nizi, Drodro und Angumu mit medizinischen Leistungen und Trinkwasser. Auch stellen wir sanitäre Einrichtungen bereit und verteilen Moskitonetze und weitere Hilfsgüter. Um dem enormen Bedarf der Vertriebenen im Nordosten der DR Kongo gerecht zu werden, hat MSF ihre Aktivitäten ab Dezember 2019 intensiviert.
© MSF/Solen Mourlon