Erfahrungsbericht aus einer Notaufnahme in Gaza: «Die Menschen sterben vor unseren Augen»
© Mariam Abu Dagga/MSF
Palästinensische Autonomiegebiete2 Min.
Die anhaltenden Luft- und Bombenangriffe der israelischen Streitkräfte fordern weiterhin hunderte Todesopfer im Gazastreifen. Im Juli mussten die Teams von Ärzte ohne Grenzen im Nasser-Spital in Khan Younis mehrmals einen massiven Zustrom von Verletzten bewältigen. Der Leiter unseres medizinischen Teams Javid Abdelmoneim berichtet aus dem letzten noch funktionsfähigen Spital im Süden von Gaza.
«Wenn so viele Verletzte ins Spital gebracht werden, ist man mit Unmengen von Menschen konfrontiert. Es ist laut und es riecht überall nach Blut. Das Sicherheitspersonal versucht derweil, die Angehörigen zurückzuhalten, um eine komplette Überlastung des Spitals zu verhindern.
Das Nasser-Spital ist auf Chirurgie, Traumatologie und die Behandlung von Brandverletzten spezialisiert. Am 13. Juli griff die israelische Armee ein Gebiet an, in welches sich die Vertriebenen auf wiederholte Aufforderung der israelischen Streitkräfte begeben sollten. Unmittelbar nach den Explosionen ertönten die Sirenen der Krankenwagen und hunderte Verletzte und Tote wurden ins Spital gebracht.
Im Spital herrschte absolutes Chaos. Unser Team eilte in die Notaufnahme. Unter den Verletzten war auch ein dreijähriges Kind. Die Eltern standen voller Sorge neben ihrer Tochter, die mir direkt in die Augen blickte.
Zuerst dachte ich, ihr ginge es gut, weil sie atmete und mich anschaute. Aber als ich den Verband abnahm, kam ein grosser Teil ihres Darms heraus. Wie konnte sie mich trotz ihrer Schmerzen noch anschauen?
Einige Sekunden später öffneten sich die Türen mit einem lauten Knall. Vier oder fünf Verletzte wurden hereingebracht, darunter ein Junge, der nicht mehr atmete. Wir versuchten, ihn wiederzubeleben. Dann sah uns die Krankenschwester an und fragte: «Er atmet nicht mehr, warum kümmern wir uns um ihn? Wir müssen die anderen retten.» Aber der Junge war doch das Kind von jemandem ... Niemand brachte es übers Herz, ihn für tot zu erklären und zur nächsten Person überzugehen. Aber uns blieb nichts anderes übrig. Also kümmerten wir uns um die nächste Person und so weiter. So ging es viereinhalb Stunden lang.
Unzählige Patient:innen lagen auf dem Boden, weil es keine freien Betten mehr gab. Und es kamen immer mehr Verletzte dazu. Ich musste mich hinknien, um mich um die Menschen zu kümmern. Meine Knie wurden ganz feucht vom Blut.
Inmitten dieses Chaos sahen wir unseren Anästhesiekollegen in der Notaufnahme. Ich fragte ihn, was er hier mache und warum er nicht im Operationssaal sei. Er antwortete mir, er habe gerade erfahren, dass sein Haus zerstört worden sei und dass seine Tochter und sein Neffe sich irgendwo im Spital befänden. Später erfuhren wir, dass sein Neffe getötet worden war.
Es nimmt einfach kein Ende. Das palästinensische medizinische Personal versucht pausenlos, Blutungen zu stoppen, Brüche zu behandeln und chirurgische Hilfe zu leisten. Die Patient:innen sterben aber weiter vor unseren Augen.
Für unsere palästinensischen Kolleg:innen ist das seit neun Monaten Alltag. Sie arbeiten und müssen gleichzeitig erfahren, dass Menschen, die sie lieben, getötet wurden. Zu sagen, dass sie am Ende ihrer Kräfte und traumatisiert sind, wäre eine Untertreibung.
Unterdessen bereiten wir uns schon auf den nächsten Ansturm von Verletzten vor.»
© Mariam Abu Dagga/MSF