Gaza: Angriff auf Fahrzeugkonvoi von Ärzte ohne Grenzen - Alles deutet auf die Verantwortung der israelischen Armee hin
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Palästinensische Autonomiegebiete8 Min.
Am 18. November 2023 geriet ein Evakuierungs-Konvoi von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) in Gaza-Stadt unter Beschuss. Dabei wurden zwei Menschen getötet. Die Umstände liessen sofort auf einen gezielten Angriff auf die Fahrzeuge schliessen, die eindeutig mit MSF-Logo gekennzeichnet waren. Beide Opfer waren Angehörige von unseren Mitarbeitenden, wobei eines der Opfer auch die medizinischen Teams im Al-Shifa-Spital als Freiwilliger unterstützt hatte. Nachdem alle unsere Mitarbeitenden, die den Angriff miterlebt haben, befragt wurden, kommt die Hilfsorganisation nun zu dem Schluss, dass die israelische Armee für den Angriff verantwortlich ist.
Ärzte ohne Grenzen hat ausserdem Augenzeugenberichte über die Zerstörung ihrer fünf Fahrzeuge und die erhebliche Beschädigung ihrer Klinik in Gaza-Stadt vom 20. November eingeholt, die alle das Logo der Hilfsorganisation trugen. Auch diese Vorkommnisse lassen sich auf den Einsatz eines Bulldozers und eines schweren militärischen Fahrzeugs durch die israelische Armee zurückführen. Die zerstörten Fahrzeuge hätten im Falle einer unabhängigen Untersuchung der Angriffe auf unseren Konvoi als Beweismittel herangezogen werden können. Die Einrichtungen von Ärzte ohne Grenzen, in denen Mitarbeitende Schutz gesucht hatten, waren gezielt beschossen worden. Von diesem Beschuss bleiben Einschusslöcher an den Innenwänden erkennbar. Am 24. November wurde unser Personal der Zerstörung eines Minibusses mit dem Logo der Organisation durch einen israelischen Panzer. Der Minibus war vom unserem Team aus Südgaza entsandt worden, um Kolleg:innen aus dem Norden zu ewakuieren, nachdem die anderen Fahrzeuge einige Tage zuvor zerstört worden waren.
Ärzte ohne Grenzen verurteilt die Angriffe auf ihren Fahrzeugkonvoi aufs Schärfste und spricht den Angehörigen der Opfer erneut ihr tiefes Beileid aus. Die Organisation hat von den israelischen Behörden formelle Erklärungen für diesen Angriff verlangt und fordert eine unabhängige Untersuchung, um die Vorfälle einzuordnen und die Verantwortlichkeit festzustellen.
Unsere Mitarbeitenden und ihre Angehörigen, die diesen traumatischen Ereignissen ausgesetzt waren, waren aufgrund der schweren Kämpfe zwei Wochen in unseren Einrichtungen eingeschlossen gewesen. Sie hatten keinen Strom und nur begrenzt Zugang zu Wasser und Lebensmitteln, bevor sie am 24. November in den Süden des Gazastreifens gebracht werden konnten.
Was folgt, sind ihre Berichte, die wir zwischen dem 26. und dem 29. November aufgenommen haben.
18. November: Ein Freiwilliger von Ärzte ohne Grenzen und ein Familienmitglied eines anderen Mitarbeiters werden durch israelische Streitkräfte getötet
Mitarbeiter:in 1: «Am 18. November erhielt unser Büro in Jerusalem die behördliche Erlaubnis, dass wir unsere Einrichtungen in Gaza (Büro, Klinik und Personalunterkunft) verlassen in den Süden des Gazastreifens gehen konnten. Wir packten unsere Sachen und stiegen in unsere Autos, um uns über die Salah-al-Din-Strasse auf den Weg in den Süden zu machen.»
Mitarbeiter:in 2: «Wir kamen an den Checkpoint in der Salah-al-Din-Strasse. Ich sass im vierten Wagen. Israelische Truppen waren dort. Sie forderten uns auf, umzukehren, weil wir keine Erlaubnis hätten.»
Mitarbeiter:in 1: «Wir warteten etwa drei Stunden hier. Es wurde langsam dunkel. Hunderte Menschen warteten, und manche beschlossen, in Richtung Norden zurückzufahren, weil sie am Checkpoint nicht durchgelassen wurden. Meine Kolleg:innen im Fahrzeugkonvoi sagten: 'Lasst uns umkehren, unser Büro in Gaza ist unsere einzige Zuflucht.' Wir informierten Paul [einen Kollegen in Jerusalem], dass wir umkehren würden, weil wir den Checkpoint nicht passieren durften. Er sagte, er würde für uns die Erlaubnis einholen, zurückzufahren.»
Mitarbeiter:in von Ärzte ohne Grenzen 2: «Als wir in die in der Nähe der MSF-Gebäude gelegene Al-Wahida-Strasse fuhren, sah ich Panzer und Scharfschützen auf den Dächern. Ich war entsetzt, als ich erkannte, dass uns sowohl die Scharfschützen als auch die Panzer ins Visier nahmen, besonders das vierte und fünfte Fahrzeug [des Konvois]. Sie eröffneten das Feuer auf uns. Eine Kugel streifte meine Stirn, dabei wurde ich oberflächlich verletzt. Die Kugel traf meinen Kollegen Alaa, der neben mir sass, in den Kopf. Er wurde schwer am Kopf verletzt und begann, stark zu bluten. Sein Kopf fiel aufs Lenkrad. Da übernahm ich das Steuer und lenkte das Auto auf die rechte Strassenseite.»
Mitarbeiter:in 2: «Wir erreichten die Klinik und versuchten, die Kopfblutung von Alaa zu stoppen. Aber wir waren machtlos. Er starb, während wir noch erste Hilfe leisteten.»
Mitarbeiter:in 1: «Ich hielt am Klinikeingang und wartete auf die letzten zwei Fahrzeuge; man sagte mir, dass einer von uns getötet worden war. Sein Name war Alaa al Shawa.»
Mitarbeiter:in 2: «Wir erhoben uns, noch im Schock über seinen Tod und das, was wir gerade erlebt hatten. Mir fehlten die Worte, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Meine Kinder weinten und man beriet, wie man den Kollegen beerdigen sollte. Eine weitere Person hatte eine Bauchverletzung davongetragen.»
Mitarbeiter:in 1: «Ich beschloss, in der Personalunterkunft Schutz zu suchen, da es mir dort sicherer schien als in der Klinik. Wir waren ungefähr 50 Leute dort. [Mein Kollege] Mohammad, seine Angehörigen und weitere Familien blieben in der Klinik. Die Autos standen vor der Klinik. Die meisten unserer Sachen hatten wir in den Autos gelassen. Wir blieben mit den Leuten in der Klinik in Kontakt. Sie sagten, sie hätten Alaa al Shawa begraben.»
20. November: Fünf Fahrzeuge von Ärzte ohne Grenzen werden durch die israelische Armee zerstört
Mitarbeiter:in 2: «Zwei Tage nach dem Angriff auf unseren Konvoi wurde ein Bulldozer geschickt, um den israelischen Panzern den Weg frei zu machen. Er schob unsere Autos von der einen auf die andere Strassenseite und beschädigte sie. Das sah ich vom Fenster im oberen Stockwerk der Klinik aus.»
Mitarbeiter:in 3: «Vom Fenster des Treppenhauses aus sahen wir einen israelischen Bulldozer und daneben einen Panzer. Dahinter fuhren vier oder fünf Fahrzeuge, Panzer und Raupenfahrzeuge. Sie feuerten zahlreiche Schüsse ab.»
Mitarbeiter:in 1: «Wir hörten ein eigenartiges Geräusch, wie von Autos, die verschrottet werden, und Schüsse. Ich sah aus dem Fenster und sah, dass die Autos auf die Seite geschoben worden waren und ein Feuer ausgebrochen war. Als die Panzer etwas weiter weg waren, begann ich zu filmen, obwohl ich grosse Angst hatte. Es war ein furchtbarer Anblick. Meine Kolleg:innen befanden sich in der Klinik, und ich hatte Angst, dass das Feuer auf die Klinik übergreifen würde. Die Bäume [in der Nähe der Klinik] fingen Feuer. Auch die Stromleitungen begannen zu brennen, es war einfach schrecklich.»
Mitarbeiter:in 2: «Als [der Bulldozer] die Autos zur Seite schob, brach die westliche Spitalmauer ein. Dann kam der Panzer und eröffnete das Feuer auf unsere Autos und Transporter. Die Transporter fingen Feuer. Ich war in der Klinik, das Feuer und der Rauch drangen zu uns hinein. Wir standen dort und fragten uns, wie wir den Brand stoppen konnten. Sofort brachten wir die Frauen und Kinder über den Hinterausgang zum anderen Gebäude, wo sich unsere Physiotherapie-Abteilung befindet.»
Mitarbeiter:in 2: «Wir schlossen die Türen – die Kliniktüren – und gingen hinein. Die Panzer waren draussen auf der Strasse vor der Klinik und kamen vier Tage lang immer wieder.»
Mitarbeiter:in 1: «Am Morgen des folgenden Tages, gegen 10 Uhr fingen wir an, zu rufen, um zu sehen, ob [unsere Kolleg:innen] noch am Leben waren ... Wir wussten ja nicht, wo sie waren. Gott sei Dank erhielten wir eine Antwort. Sie sagten, sie seien unverletzt und ebenfalls in Sorge um uns.»
24. November: Weitere Fahrzeuge von Ärzte ohne Grenzen werden zerstört
Mitarbeiter:in 2: «Den Strom bezogen wir normalerweise von den Generatoren in der Personalunterkunft. Der Brand aber hatte die Stromleitungen beschädigt, und wir hatten drei Tage lang keinen Strom. In diesen drei Tagen vor der Feuerpause hatten wir keinen Strom, keine Lebensmittel und kein sauberes Trinkwasser. Am ersten Tag der Feuerpause, so gegen 4:30 Uhr, zerstörte ein israelischer Panzer auch den Minibus und die Autos von Ärzte ohne Grenzen, die man uns zur Evakuierung [aus dem Süden des Gazastreifens] geschickt hatte.»
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