Gewalt gegen Palästinenser:innen – beispielloses Ausmass erreicht

alternativen Weg zwischen Bäumen zur Hauptstrasse in Tel Rumeida

Palästinensische Autonomiegebiete6 Min.

Im gesamten Westjordanland nehmen Anzahl und Grösse der israelischen Siedlungen stetig zu. Die Gewalt erreicht nie dagewesene Ausmasse. Mehr denn je sind Palästinenser:innen ihr ausgesetzt; die israelischen Streitkräfte verhindern sie oft nicht. In Gebieten mit hoher israelischer Präsenz kennt so gut wie jede Familie mindestens eine Person, die im Rahmen einer Konfrontation mit Siedler:innen schikaniert, angegriffen oder festgenommen wurde.

Yasser Abu Markhiyehs Tochter Janna war zweieinhalb Jahre alt, als sie von Steinen im Gesicht und an den Beinen getroffen wurde. Ihr Papa trank gerade einen Kaffee auf der Terrasse ihres Hauses in der Stadt Hebron, die kleine Tochter sass auf seinem Schoss. Plötzlich begannen israelische Siedler:innen Steine auf das Haus des 51-jährigen Palästinensers zu werfen.

Heute ist Janna sieben Jahre alt. Seit der Gewalteinwirkung schielt sie. Mehrere Augenoperationen hat sie bereits hinter sich. Nach der Pubertät wird sie noch mindestens eine weitere benötigen. Die Psycholog:innen von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) helfen Yasser und Janna, mit dem schmerzvollen Erlebnis und den anhaltenden Schikanen umzugehen. Aber: Die Häuser der Siedler:innen stehen unweit von ihrem eigenen Haus. Dadurch sind sie tagtäglich mit ihren Angreifer:innen konfrontiert. 

Das Wohnviertel von Yasser und Janna in Tel Rumeida ist besonders stark besiedelt. Es liegt in der als  «H2» bezeichneten Zone von Hebron. In dieser israelischen Enklave leben rund 700 Siedler:innen in unmittelbarer Nähe zu palästinensischen Wohnhäusern. Obwohl Hebron bereits vor der Gründung Israels eine kleine jüdische Bevölkerung beherbergte, war die Siedlungstätigkeit seit Beginn der israelischen Besetzung des Westjordanlandes im Jahr 1967 besonders intensiv. Im Rahmen eines Abkommens von 1997 wurden 80 Prozent des Stadtgebiets der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt. H2 blieb unter israelischer Besatzung. Das Ziel: Die bestehenden Siedlungen schützen – und ausbauen.

Dieser Trend geht weit über das H2-Viertel hinaus, er lässt sich im gesamten Westjordanland beobachten: Die Zahl der Siedler:innen lag im Jahr 1999 bei 183 000. Heute sind es 465 000 (ohne die 220 000 in Ost-Jerusalem). Auch sind immer mehr israelische Soldat:innen im Einsatz. Ihre Präsenz bedeutet für die Palästinenser:innen jede Menge Einschränkungen.

«Wir beobachten zahlreiche Übergriffe durch Siedler:innen, seit wir in der Region medizinische und psychische Hilfe anbieten – insbesondere in der Nähe von Siedlungen wie H2», so Mariam Qabas, die den Bereich Gesundheitsförderung von Ärzte ohne Grenzen in Hebron leitet. «An Kontrollpunkten kommt es regelmässig zu verbaler und physischer Belästigung, Inhaftierung, Sachbeschädigung. Nicht selten führt das zu posttraumatischen Belastungsstörungen, Angstzuständen und Depressionen. Viele Kinder trauen sich nicht mehr in die Schule.»

Auch Mariam wurde bereits zur Zielscheibe von Siedler:innen. Diese bewarfen die 56-Jährige und einen weiteren unserer Mitarbeiter mit Steinen, als sie vor dem Haus eines Patienten in H2 warteten. Hilflos fühlte sie sich damals: «Wie können wir diesen Menschen helfen, wenn wir noch nicht einmal uns selbst vor diesen Angriffen schützen können?»

Den Angriff auf seine Tochter hat Yasser der israelischen Polizei gemeldet. Gebracht hat ihm das – nichts. Den Männern, die sein Haus vor Jahren mit Steinen bewarfen, läuft er heute noch ab und an über den Weg. Einige von ihnen sind in der Armee. Einer arbeitet als Sanitäter. Yasser hat ihn auf die Gewalt gegen seine Tochter angesprochen. Eine kleine Jugendsünde sei das gewesen, sagt der. Nichts mehr, und nichts weniger. 

Früher arbeitete Yasser als Taxifahrer, sein Auto parkte er immer vor dem Haus. Seit in der Nähe seines Hauses ein Kontrollpunkt steht, muss er es weiter wegstellen. Er erinnert sich noch gut an die Zeit, als  die Strasse frei war. Irgendwann dienten ein paar Sandsäcke und eine Holzbarrikade als Sperre. Und heute regelt ein grosses Metalltor die Zufahrt zum Viertel. Auf dem Weg zur Schule müssen Janna und ihre Schwestern  jeden Tag am Kontrollpunkt vorbei – und an den  Soldat:innen. Die Familie ist von der Gemeinschaft isoliert; Freunde und Verwandte besuchen sie aus Angst vor der Gewalt nur selten.

Wut und Verwüstung im Norden des Westjordanlandes

In der Region Nablus im nördlichen Westjordanland wurden völkerrechtswidrige Siedlungen auf den Hügeln rund um die Stadt errichtet. Die gewaltsamen Vorfälle erreichten auch hier im Jahr 2022 Rekordwerte. Nachdem ein palästinensischer Schütze zwei Siedler erschossen hatte, stürmten im Februar 2023 Hunderte Siedler:innen in die Stadt Huwara hinunter, einige von ihnen mit Messern und Gewehren bewaffnet. Eine Person starb, mehr als 100 Menschen wurden verletzt, Fenster wurden eingeschlagen, Autos angezündet. 

Hussam Odeh ist 15 Jahre alt. Eine Zeit ohne Siedler:innen kennt seine Generation nicht. Sein Haus steht direkt an der Hauptstrasse von Huwara. Seit die israelischen Streitkräfte die Nebenstrassen mit grossen Betonblöcken blockiert haben, herrscht hier immer reger Verkehr. Die Machtdynamiken in Palästina kennt der Teenager ganz genau. Vom Fenster seiner Wohnung aus kann er die Soldat:innen auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes patrouillieren sehen. Von dort aus überwachen sie die Stadt. Mittlerweile gehören sie zu seinem Alltag: «Wir erkennen sie mit Leichtigkeit», erklärt er unseren Psycholog:innen, die seine Tante unterstützen. Sie lebt gemeinsam mit ihrem querschnittsgelähmten Mann in dem gleichen Gebäude wie ihr Neffe. 

Hussams besucht eine Sekundarschule für Jungen in Huwara. Ganz in der Nähe liegt eine Siedlung. Im Oktober 2022, als Hussam und seine Freunde vor dem Unterricht Fussball spielten, hörten sie Schreie. «Siedler griffen unsere Schule an. Sie hatten Gewehre und Molotowcocktails dabei», erinnert er sich. «Die Armee trieb die Siedler auseinander und schickte alle Jugendlichen nach Hause. Zwei Schüler hatten sich Schnittwunden zugezogen und mussten ins Spital.»

2 mai dernier. Hebron, Palestine.  MSF

Janna, die Tochter von Yasser Abu Markhiyehs Tochter Janna sitzt im Zimmer ihrer Grossmutter, Hebron, Palästina, 2. Mai 2023.

© Samar Hazboun

Mustafa Mlikat ist Beduine. Vor einiger Zeit hat er Jericho verlassen und ist in das Dorf Duma gezogen. Die Schikanen und die Gewalt wurden ihm zu heftig. Früher war es anders, weniger schlimm, findet er. Er erinnert sich an die Zeit, als Siedler:innen ihn oder andere Beduin:innen in die Stadt mitnahmen. Irgendwann bauten sie ein Haus direkt neben seins. «Sie schikanierten uns die ganze Zeit. Zum Beispiel verboten sie uns, das Land weiter zu nutzen, auf dem unsere Schafe weideten.»

Die Bewohner:innen von Muarrajat begannen nach und nach, ihr Vieh zu verkaufen und zogen weg. Auch Mustafa brachte seine 50-köpfige Schafherde und sein gesamtes Hab und Gut auf ein neues Grundstück, weit weg von den Siedlungen. Die Geschichte von Muarrajat ist kein Einzelfall, denn Beduinen sind besonders betroffen: Am 22. Mai 2023 entschied sich eine ganze Viehzüchtergemeinschaft mit 178 Mitgliedern in der Nähe von Ramallah, umzuziehen. Die israelischen Streitkräfte hatten ihre Häuser abgerissen und Weideflächen beschlagnahmt. 

Im Februar 2023 zerstörten die israelischen Streitkräfte Mustafas Haus. Er habe keine Baugenehmigung, behaupteten sie. Auf den Trümmern hat der Mann ein Zelt aufgeschlagen.  Im Sommer ist es darin kaum auszuhalten, doch eine Alternative hat er nicht. «Die psychische Gesundheit der Palästinenser:innen leidet durch diese traumatischen Ereignisse. Doch auch die ständige Wachsamkeit, die Sorgen und die Ungewissheit  sind zermürbend», erklärt Mirella, die in Nablus für unsere psychologischen Hilfsangebote verantwortlich ist.

Der 50-Jährige beobachtete, wie die Siedlungen über die Jahre wuchsen. Die Strassen, die für Palästinenser:innen zugänglich sind, wurden immer weniger, was seine Arbeit als Taxifahrer erschwerte. Mustafa sieht das Problem im Status quo, der seit den Osloer Abkommen von 1993 im Westjordanland herrscht: «Die Besatzung ist der Grund für die angespannte Situation. Ohne sie gäbe es keine Gewalt und keine Morde.»

*Name aus Sicherheitsgründen geändert.