«Ich kann mein Volk nicht im Stich lassen» – Bericht eines Chirurgen aus Homs

Un hôpital de 15 lits à Idlib dédié au traitement de patients brûlés en janvier 2015.

Syrien4 Min.

Obwohl er in ständiger Angst vor Luftangriffen lebt, fühlt sich der von MSF unterstützte syrische Chirurg verpflichtet, im Land zu bleiben und seine Landsleute medizinisch zu versorgen.

Obwohl er in ständiger Angst vor Luftangriffen lebt, fühlt er sich verpflichtet, zu bleiben und die Menschen medizinisch zu versorgen. Der Chirurg, der im ländlichen Norden des Regierungsbezirks Homs arbeitet, erzählte im Herbst vergangenen Jahres von seinem Alltag und seiner quälenden Hilflosigkeit angesichts der Lage in Syrien / seinen quälenden Ohnmachtsgefühlen. Er ist einer der Ärzte, die in Syrien von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) unterstützt werden. Als Facharzt für Chirurgie ist er für rund 100‘000 Menschen zuständig.
Die meisten anderen Chirurgen sind fortgegangen. Ich bin in einer schwierigen persönlichen Lage und in einem inneren Zwiespalt. In einer Zeit, in der es anderen Chirurgen nicht möglich ist hierherzukommen, kann ich nicht gehen und die Menschen zurücklassen. Doch es geht mir hier nicht gut. Meine Frau und unsere Kinder leben in ständiger Gefahr. Ich bin sehr unglücklich mit dieser Situation, aber ich weiss auch, dass die Menschen uns dringend brauchen.

Massive Bevölkerungsverschiebungen

Die medizinische Versorgungslage ist katastrophal. Als die Zahl der Luftangriffe in der Region Homs im Oktober massiv anstieg, sahen wir in den ersten paar Tagen mehr als 100 Tote und Hunderte Verletzte. Die Optionen der Menschen sind gering. Seit Mitte 2012 wird die Region nördlich von Homs belagert. Die Bevölkerung flieht aus belagerten Ortschaften wie Deir Maalle und Al-Ghanto, die heftig bombardiert werden, in andere Ortschaften wie Ar-Rastan und Al-Zafaranah, die zwar auch belagert werden, aber vergleichsweise sicher sind. In der Folge ist die Bevölkerung dort auf mehr als 100‘000 Menschen angewachsen.
Die Folgen spüren auch wir: Während wir im Spital von Al- Zafaranah früher 100 bis 150 ambulante Konsultationen pro Tag durchführten, ist diese Zahl aufgrund des Bevölkerungsanstiegs jetzt eineinhalb Mal so hoch.

Erschütternde Kinderschicksale

Es versteht sich von selbst, dass in den Kliniken in ruhigeren Gebieten mehr chirurgische Eingriffe durchgeführt werden können als dort, wo Bomben fallen. Die Belastung für die beiden Kliniken in Deir Maalle und Al-Ghanto ist enorm, obwohl dies ausgerechnet die am schlechtesten ausgestatteten in der Region sind. Manchmal gelingt es uns, medizinische Geräte aus anderen Kliniken in diejenigen zu holen, die mitten in den Gefahrenzonen liegen. Dagegen hat es sich als zu riskant erwiesen, Verletzte zu evakuieren. Kritische Fälle werden deshalb trotz ständig drohender Angriffe direkt vor Ort behandelt.
Es ist besonders erschütternd, wenn man verletzte Kinder behandeln muss. Dabei überkommt einen ein unerträgliches Gefühl von Ohnmacht. Da gab es einen Luftangriff, der neun Menschen getötet hat, darunter fünf Angehörige einer Familie: einen Vater und vier seiner Kinder. Eines war nur wenige Wochen alt. Als es in die Klinik gebracht wurde, war es noch am Leben. Der kleine Körper des Mädchens war von Granatsplittern ganz entstellt. Für mich war es besonders schlimm, weil ich selbst ein einjähriges Kind habe. Wir sind es ja gewohnt, bei der Arbeit tragische Fälle wie Amputationen und Schädelbrüche zu erleben. Aber bei einem leidenden Kind zerreisst es einem das Herz.

Gekappte Versorgungsrouten

Schon länger ist es extrem schwierig, Medikamente zu beschaffen. Mittlerweile ist es fast unmöglich. Die üblichen Routen für die Medikamentenlieferungen sind komplett abgeschnitten, z. B. die Strasse von hier nach Homs. Wir sind nun von einer schwer befahrbaren Route abhängig, die nach Norden führt. Unsere Hoffnung ist, dass wir die Versorgung dadurch aufrechterhalten können.
Wegen der Vielzahl chirurgischer Eingriffe, die wir vornehmen müssen, gehen uns allmählich die Anästhetika aus, wie auch Verbandsmull, Desinfektionsmittel, Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente. Die Kliniken in den belagerten Gebieten um Homs haben Notfallpläne entwickelt, falls ihnen die Medikamente ausgehen.

Alarmierende Ernährungssituation

Ohne die Unterstützung von MSF müssten mehrere Kliniken in den ländlichen Gebieten nördlich von Homs den Betrieb einstellen. Die medizinische Versorgung der Menschen ist dank der Organisation zumindest notdürftig gewährleistet. In anderen Bereichen ist jedoch viel mehr Unterstützung nötig. Die Ernährungssituation ist alarmierend. Es fehlt an Nahrungsmitteln und Babymilch. Die Organisationen vor Ort sind nicht in der Lage, den Bedarf abzudecken.
Die Armut der Menschen wird immer grösser und damit auch ihre Hilflosigkeit. Es bleibt ihnen nichts weiter übrig, als all das zu erdulden. Diejenigen, die genügend Geld hatten, konnten fliehen. All die anderen, die es sich nicht leisten können, müssen bleiben. Es gibt einige Leute, die so stark mit ihrem Heimatland Syrien verwurzelt sind, dass sie niemals gehen würden. Ich bleibe, weil ich mein Volk nicht im Stich lassen kann.