Mangelernährung im Nordwesten Nigerias erreicht extrem kritisches Niveau
© Abba Adamu Musa/MSF
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Eine neue Studie zeigt, dass sich der Anteil der Kinder mit akuter Mangelernährung in einigen Regionen im Nordwesten Nigerias seit dem vergangenen Jahr verdoppelt hat. Die Situation galt schon damals als dramatisch. Hilfslieferungen in die betroffenen Gebiete haben nie ausgereicht, den Bedarf zu decken. Nun kommen sogar noch weniger Nahrungsmittel an. Ärzte ohne Grenzen drängt auf sofortige zusätzliche Unterstützung, um eine noch größere Katastrophe im Jahr 2025 zu verhindern.
Ärzte ohne Grenzen hat die Daten in Zusammenarbeit mit Epicentre (der epidemiologischen Forschungseinrichtung der Organisation) und dem Gesundheitsministerium des Bundesstaates Katsina erhoben. Die Ergebnisse sind alarmierend: In einigen Gebieten weisen mehr als 30 Prozent der Kinder Symptome akuter Mangelernährung auf und die Rate der schweren akuten Mangelernährung – der gefährlichsten Form – liegt zwischen 6,8 und 14,4 Prozent. Seit der Erhebung verzeichnet Ärzte ohne Grenzen einen weiteren Anstieg der Einweisungen in Spitäler.
«Diese Ergebnisse sind wirklich erschreckend. Die Zahlen sind in den letzten Jahren stetig gestiegen. Jetzt entwickeln sie sich von einem kritischen hin zu einem äußerst kritischen Niveau. In einem Gebiet des Bundesstaates, in Mashi, waren 14 Prozent der untersuchten Kinder schwer unterernährt. Diese Prävalenz ist katastrophal. Wir brauchen dringend mehr und nicht weniger Maßnahmen von Seiten der Organisationen, sonst werden wir erleben, wie Kinder in Rekordzahlen sterben», sagt Dr. Raphael Kananga, medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen.
Bundesstaat Katsina: Mehr als 10'000 Kinder wegen Mangelernährung behandelt
Ärzte ohne Grenzen betreibt im Bundesstaat Katsina vier therapeutische Behandlungszentren für mangelernährte Kinder. In diesem Jahr wurden mehr Kinder mit schwerer Mangelernährung versorgt. Der Anteil derer, die in ein Spital eingeliefert werden mussten, ist ebenfalls gestiegen. Insgesamt haben die medizinischen Teams seit Anfang des Jahres mehr als 100.000 mangelernährte Kinder behandelt. Das ist ein Anstieg von 20 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Zahl der Spitaleinweisungen ist im Vergleich zu den Jahren 2022 und 2023 um mehr als 50 Prozent gestiegen. Mehr als 800 Kinder sind zwischen Jänner und September 2024 aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands in den Einrichtungen von Ärzte ohne Grenzen verstorben.
Zamfara: Akute Mangelernährung bei 27 Prozent der Kinder
Anfang dieses Jahres führte Ärzte ohne Grenzen ein Massenscreening in mehreren Gebieten des Bundesstaates Zamfara durch. Auch hier sind 27 Prozent der Kinder von akuter Mangelernährung betroffen. Dies ist ein Trend, den Ärzte ohne Grenzen in allen Einrichtungen im Norden Nigerias beobachtet. Insgesamt haben die Teams 294'000 Kinder in sieben Staaten im Norden Nigerias zwischen Jänner und September wegen Mangelernährung behandelt. Das sind 43 Prozent mehr als im Jahr 2023 im gleichen Zeitraum.
«Wir haben immer wieder vor der Verschärfung der Ernährungskrise im Norden Nigerias gewarnt. Die Ergebnisse der jüngsten Erhebungen bestätigen unsere schlimmsten Befürchtungen - die Situation hat sich deutlich verschlechtert. In diesem Jahr waren unsere Teams an Orten wie Kebbi, Zamfara, Katsina und Maiduguri mit einer noch nie dagewesenen Zahl mangelernährter Kinder konfrontiert, die dringend versorgt werden mussten. Wir haben jede verfügbare Ressource genutzt, von zusätzlichen Zelten bis hin zu Ersatzmatratzen, um den Zustrom von Patient:innen zu bewältigen, die in unseren Spitälern ankommen. Ich befürchte, dass sich die Situation im kommenden Jahr dramatisch verschlimmern könnte, wenn nicht sofort und konsequent gehandelt wird. Wir erkennen die jüngsten und laufenden Bemühungen des nigerianischen Gesundheitsministeriums zur Bekämpfung der Unterernährung an. Wenn alle Beteiligten die Mittel aufstocken und eine zuverlässige Versorgung mit therapeutischer Nahrung sicherstellen, besteht die Hoffnung, dass wir im nächsten Jahr das Leben vieler Kinder retten können», so Dr. Simba Tirima, Landesbeauftragter von Ärzte ohne Grenzen in Nigeria
Weitere Verschlechterung der Versorgung mit Nahrungsmitteln
Die Prognosen für eine weitere Verschlechterung der Ernährungssicherheit in der nahen Zukunft sind ebenfalls sehr besorgniserregend. Die Inflation ist in Nigeria derzeit sehr hoch, die Abwertung der Landeswährung hält an, die landwirtschaftlichen Erträge sind in diesem Jahr erneut stark zurückgegangen. Die Lebenshaltungskosten steigen, die Unsicherheit ist in mehreren Teilen der Region nach wie vor besorgniserregend. Klimaereignisse haben Auswirkungen auf den Viehbestand und die Ernten. Aufgrund all dieser Faktoren befürchtet Ärzte ohne Grenzen im Jahr 2025 eine noch größere Katastrophe, wenn keine zusätzlichen Maßnahmen ergriffen werden. Trotz des enormen Anstiegs der Mangelernährung ist der Bundesstaat Katsina und der Rest der betroffenen nordwestlichen Region noch immer nicht im humanitären UN-Hilfsplan für Nigeria enthalten.
Die weltweiten Kürzungen der Hilfsmittel schränken die Möglichkeiten der Organisationen ein, Mangelernährung zu behandeln. Die unzureichende Versorgung mit therapeutischer Nahrung war im letzten Jahr weltweit eine Herausforderung und sie verschlechtert sich weiter. In einigen Gebieten, wie etwa in Zamfara, sind seit März nur noch begrenzte Mengen verfügbar. UNICEF hat vor kurzem einen weltweiten Hilfsappell gestartet. Die Organisation befürchtet, dass fast zwei Millionen Kinder in 12 Ländern aufgrund dieser Engpässe vom Tod bedroht sind.
Ärzte ohne Grenzen hilft in sieben nigerianischen Bundesstaaten
Ärzte ohne Grenzen führt in sieben nigerianischen Bundesstaaten Ernährungsprojekte durch: in Borno, Bauchi, Katsina, Kano, Sokoto, Zamfara und in Kebbi. Dazu gehören 10 stationäre Einrichtungen, unter anderem in Maiduguri und in der Stadt Katsina, sowie mehr als 30 ambulante Ernährungszentren in diesen Bundesstaaten, in denen Kinder mit mäßiger und schwerer Mangelernährung behandelt werden.
Details zur Studie in Katsina
Die Erhebung wird seit 2022 jährlich zur gleichen Zeit in den gleichen Gebieten und mit der gleichen Methodik durchgeführt, um das Auftreten akuter Mangelernährung bei Kindern im Alter von sechs Monaten bis fast fünf Jahren zu erheben. Im Juli wurden 2.066 Kinder in den Landkreisen Jibia und Mashi in Katsina untersucht. Dafür wird ein standardisiertes internationales Instrument zur Analyse und Klassifizierung von Mangelernährung (IPC AMN) verwendet. Bei der ersten Erhebung lag der Wert für globale akute Mangelernährung (GAM) bei 22 Prozent. Der Ernährungszustand von Kindern im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren wurde anhand von drei Kriterien untersucht: mittlerer Oberarmumfang, bilaterales Lochödem (Schwellung und Flüssigkeitsansammlung in den Beinen) sowie dem Verhältnis von Körpergewicht zu Größe.
© Abba Adamu Musa/MSF