Mit Traumata leben: Psychologische Betreuung von Vertriebenen in der Ukraine
© Fanny Hostettler/MSF
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Seit September 2023 bieten Teams von Ärzte ohne Grenzen in einem neuen Zentrum für psychische Gesundheit in Vinnytsia psychologischen Unterstützung für Menschen mit kriegsbedingten posttraumatischen Belastungsstörungen an. Sie haben seitdem fast 1400 Beratungen durchgeführt und 4400 Aufklärungsveranstaltungen organisiert; 81 Patient:innen haben ihre Therapie im Rahmen dieses Programms abgeschlossen.
«Ich ziehe oft Parallelen zwischen physischen und psychischen Verletzungen», sagt Mariana Rachok, Gesundheitsberaterin bei Ärzte ohne Grenzen. «Wenn man eine Wunde nicht desinfiziert oder behandelt, sondern sie einfach abdeckt und versucht, sie zu ignorieren, verheilt die Wunde nicht, der Zustand der Patient:in verschlechtert sich gar. Zwar kann man mit psychologischer Unterstützung keine geliebten Menschen herbeizaubern oder ein zerstörtes Zuhause wieder herstellen. Man kann Betroffenen aber dabei helfen, dass sie Wege finden, um mit ihrem Trauma zu leben.»
Auch Alina Rosheva hatte einige psychische Verletzungen zu bewältigen. Nach Ausbruch des Krieges musste die 20-Jährige mit ihren Verwandten aus Mariupol fliehen. «Wir hatten ein schönes Haus in Mariupol. Ich hatte viele Freunde und blickte voller Zuversicht in die Zukunft. Im Februar 2022 fand alles ein abruptes Ende. Mit Verwandten verschanzten wir uns in unserem Keller. Die Explosionen waren so heftig, dass die Kellertür aufgesprengt wurde. Um unser Leben zu retten, mussten wir fliehen.»
Nach 20 Tagen im Keller machte sich Alina mit ihren Verwandten auf eine lange und gefährliche Reise. Sie passierte ein Dutzend russische Kontrollposten, bevor sie in ein von der ukrainischen Armee kontrolliertes Gebiet gelangte. Auf dem Weg Richtung Westen erreichte sie die Stadt Vinnytsia, die ihr vorübergehendes Zuhause geworden ist.
Wie Alina sind derzeit mehr als 4,6 Millionen Ukrainer:innen Vertriebene im eigenen Land, 160 000 von ihnen leben in Vinnytsia. Ab April 2022 leistete Ärzte ohne Grenzen medizinische und psychologische Erste Hilfe in den Unterkünften, in denen die Vertriebenen in und um die Stadt untergebracht waren. Um auf die Angebote für psychologische Unterstützung aufmerksam zu machen, führen die Teams von Ärzte ohne Grenzen Gruppensitzungen durch, die sich sowohl an Erwachsene als auch an Kinder richten.
Psychologische Unterstützung bei Kriegstraumata
Sie erkannten bald, dass viele Menschen aufgrund des Krieges an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) litten und spezialisierte psychologische Betreuung benötigen. Daher eröffnete Ärzte ohne Grenzen Im September 2023 in Vinnytsia ein Traumazentrum für Menschen mit kriegsbedingter PTBS.
Die meisten Patient:innen sind Vertriebene, die Schreckliches erlebt und überlebt haben. Sie haben Albträume, wiederkehrende Flashbacks und leiden an Angstzuständen. Ohne Hoffnung kapseln sie sich ab. All dies sind normale Reaktionen auf abnormale Ereignisse. Wenn solche Reaktionen jedoch länger als drei bis sechs Monate anhalten, ist dies ein Hinweis darauf, dass eine Person an einer PTBS leidet.
Die Psycholog:innen von Ärzte ohne Grenzen betreuen derzeit etwa 30 Patient:innen in wöchentlichen Konsultationen. Zunächst sprechen sie mit einer Ärzt:in und einer Psychologin. Anhand von Tests und klinischer Beobachtung stellen diese eine Diagnose und entwickeln dann ein Behandlungsprogramm für die Patient:in.
«Das Behandlungsprogramm hängt vom psychischen Zustand ab, in dem die Person zu uns kommt, umfasst im Durchschnitt aber 10-15 Konsultationen», sagt Dr. Savchenko. Bei den Konsultationen wenden die Psycholog:innen evidenzbasierte Verfahren an, die auf die Bedürfnisse der Patient:innen abgestimmt werden.
Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
PTBS-Betroffene sträuben sich häufig dagegen, Hilfe zu suchen. Die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen verstärkt diese Ablehnung. «Es fehlt an Wissen darüber, wie eine Psychotherapie abläuft. Dies kann Menschen davon abhalten, Hilfe zu suchen», sagt Andrii Panasiuk, Psychologe und Supervisor für psychische Gesundheit bei Ärzte ohne Grenzen.
Die Teams führen deshalb Gespräche mit Hausärzt:innen und Veteranenverbänden durch, um sie für das Thema PTBS zu sensibilisieren und sie über Symptome zu informieren. Zusammen mit lokalen Organisationen, die sich um Vertriebene kümmern, führen die Teams von Ärzte ohne Grenzen im Rahmen von kreativen Workshops oder Kunstprojekten auch Aufklärungsgespräche über Anzeichen von PTBS durch.
«Ich fange wieder an zu leben»
Die 74-jährige Lidia Bazualyeva wurde aus ihrem Haus in Kherson vertrieben und erhielt von Ärzte ohne Grenzen psychologische Unterstützung für ihre PTBS. «Die kreativen Aktivitäten haben mir mental geholfen, ebenso wie die Gespräche mit der Psychologin. Langsam kam ich aus diesem sehr schwierigen Zustand heraus. Ich habe noch nie eine Veranstaltung verpasst, die von den Teams für Gesundheitsförderung organisiert wurde, sie sind zu meiner Familie geworden», sagt sie und lächelt. «Wenn ich erzähle und mich mit anderen austausche, fange ich wieder langsam an zu leben.»
Lidia Bazualyeva, 74 Jahre.
Alina Rosheva hat vor kurzem das PTBS-Programm von Ärzte ohne Grenzen abgeschlossen. «Ich habe viele Therapiesitzungen besucht», sagt sie. «Es war nicht einfach, der Heilungsprozess dauert lange und war kompliziert – er passiert nicht über Nacht. Nach drei Monaten hörten die Panikattacken aber auf. Ich hatte gelernt, mit ihnen umzugehen und sie zu kontrollieren.» Mittlerweile organisiert Alina selbst kulturelle Aktivitäten für die Organisation I'Mariupol. Sie hat einen neuen Freundeskreis in Vinnytsia aufgebaut und blickt wieder mit Zuversicht in die Zukunft.
© Fanny Hostettler/MSF