Mittelmeer: Alle 572 Überlebenden durften endlich an Land gehen

Gerettete an Bord der Geo Barents bei einer früheren Rettungsaktion. Mittelmeer. Oktober 2022.

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Nach zehn Tagen auf See und drei Tagen des Wartens im Hafen von Catania konnten alle Überlebenden an Bord des Rettungsschiffes Geo Barents am Dienstag, 8. November endlich an einem sicheren Ort an Land gehen. Die italienischen Behörden hatten zunächst nur die Ausschiffung von 357 Personen erlaubt, woraufhin 215 Menschen an Bord zurückbleiben mussten.

Die geretteten Personen waren somit Geiseln einer politischen Debatte und einer rechtswidrigen Entscheidung, die sie daran hinderten, dringend benötigte Hilfe und Schutz an Land zu erhalten.

Die Selektion nach dem Gesundheitszustand der Geretteten und die verzögerte Ausschiffung durch die italienischen Behörden sind unmenschlich, inakzeptabel und rechtswidrig. Nach internationalem Seerecht müssen Überlebende, die auf See gerettet wurden, innerhalb einer angemessenen Zeit an einen sicheren Ort gebracht werden.

Juan Matias Gil, Einsatzleiter an Bord der Geo Barents

«Die einschlägigen Rechtsinstrumente und Leitlinien machen die Ausschiffung an einem sicheren Ort nicht davon abhängig, ob medizinische Beschwerden oder anderer Gründe vorliegen. Die verantwortlichen Küstenstaaten sollten vielmehr alle Anstrengungen unternehmen, um die Zeit, die die Geretteten an Bord des hilfeleistenden Schiffes bleiben, so kurz wie möglich zu halten. Dabei müssen die besonderen Umstände einer Rettung, die Situation an Bord des hilfeleistenden Schiffes und die medizinischen Bedürfnisse berücksichtigt werden», erklärt Juan Matias Gil, Einsatzleiter an Bord unseres Rettungsschiffes Geo Barents.

Nach der Selektion an Bord durch die Behörden hatte sich der psychische und physische Zustand einiger verbliebener Menschen dramatisch verschlechtert. Ein Geretteter wurde in der Nacht vom 6. auf den 7. November wegen starker Bauchschmerzen evakuiert, andere Menschen an Bord zeigten Anzeichen von Angstzuständen und hatten Panikattacken. 

«Viele der Geretteten waren bereits traumatisiert, weil sie in Libyen, in ihren Heimatländern oder auf der Reise Gewalt und Missbrauch erlebt hatten. Die lange Wartezeit führte zu starken emotionalen und psychischen Belastungen. Episoden von Schlaflosigkeit, Angstzuständen und physischen und psychischen Problemen wurden von Tag zu Tag häufiger. Und wir hatten keine Antworten, wenn wir gefragt wurden, warum sie nicht von Bord gehen konnten», sagt Stefanie Hofstetter, medizinische Einsatzleiterin auf der Geo Barents.

Unsere Antwort auf die rücksichtslose europäische und nationale Politik der unterlassenen Hilfeleistung auf See

Die Geo Barents hat den Hafen von Catania am 10. November verlassen und wird sich auf einen neuen Rettungseinsatz für Menschen in Not vorbereiten. Dies ist und bleibt die Antwort von Ärzte ohne Grenzen auf die rücksichtslose europäische und nationale Politik der unterlassenen Hilfeleistung auf See, die Menschen zum Ertrinken verurteilt und sich weigert, sie an einem sicheren Ort an Land zu bringen.

Als humanitäre Organisation werden wir, im Einklang mit dem internationalen Seerecht, an dem wir unsere Einsätze stets orientieren, die Rettungen auf See fortsetzen. Eine Rettungsaktion beginnt mit der Bergung von Menschen aus dem Wasser und endet, wenn alle Überlebenden an einem sicheren Ort an Land gegangen sind.

Juan Matias Gil, Einsatzleiter

Berichte von Überlebenden

Aus Verzweiflung ins Wasser gesprungen – Youssouf*

Youssouf* war einer der Menschen, die länger an Bord ausharren mussten. Am Nachmittag des 7. Novembers fasste er zusammen mit zwei anderen Überlebenden den verzweifelten Entschluss, vom Schiff ins Wasser zu springen, um die Anlegestelle des Hafens zu erreichen. Die dritte Person kam schliesslich wieder zurück an Bord und erzählte unserem Team, er sei nur gesprungen, um den anderen beiden zu helfen, weil er befürchtete, dass diese ertrinken könnten. Youssouf* und Ahmed* hingegen verbrachten die Nacht auf dem Dock und weigerten sich zu essen und zu trinken, während sie auf eine Entscheidung der italienischen Behörden warteten. Nachdem Ahmed mehr als 24 Stunden auf dem Dock gelegen hatte, wies er hohes Fieber und Anzeichen von Dehydrierung auf und wurde von den italienischen Gesundheitsbehörden in die nächstgelegene Gesundheitseinrichtung gebracht, um medizinische Hilfe zu erhalten.

«Nach mehreren Tagen auf diesem Schiff wurde ich wahnsinnig. Ich hatte das Gefühl, dass mein Körper und meine Träume auseinanderbrechen. Ich bin dankbar für all die Hilfe, die ich an Bord erhalten habe, aber ich konnte diese Situation nicht mehr ertragen», sagte Youssouf zu einem Mitarbeiter an Bord der Geo Barents. «Ich habe Nordsyrien verlassen, um meiner Familie ein sicheres Leben zu ermöglichen. Ich habe vier Töchter, die ich in der Hoffnung, dass sie bald zu mir nach Europa, an einen sicheren Ort, kommen können, zurückgelassen. Die Jüngste von ihnen ist erst sechs Jahre alt. Sie haben in den vergangenen Jahren miterlebt, wie Bomben auf unsere Stadt fielen. Jetzt können sie wegen der anhaltenden Unsicherheit in der Gegend nicht zur Schule gehen. Bewaffnete Gruppen sind überall und entführen Menschen, um Lösegeld zu erpressen. Die Situation ist ausser Kontrolle geraten, und ich fürchte jeden Tag um ihr Leben. Ich möchte einfach einen Ort finden, an dem sie keine Angst haben müssen und sich sicher fühlen können. Das ist mein Traum, und den werde ich mir nicht nehmen lassen.»
 
Youssouf* durfte letztlich zusammen mit anderen Überlebenden, die zunächst von den selektiven Bestimmungen der italienischen Regierung ausgeschlossen waren, schliesslich am Abend des 8. November von Bord gehen.
 

Seit 2 Jahren auf der Flucht – Akhtar*

Akhtar*, ein 21-jähriger Mann aus Bangladesch, sagte unserem Team, dass er sein Land vor fast zwei Jahren verlassen hat. Sein Weg führte ihn erst nach Syrien, Libyen und schliesslich auf das Mittelmeer, wo er in einem überfüllten Holzboot sein Leben riskierte. «Ich hatte keine Ahnung, wie schwierig diese Reise sein würde. Ich blieb über ein Jahr lang in Libyen, wo ich mit Menschen aus verschiedenen Ländern in einem Camp gelebt habe. Wir waren neun Personen, die in einem Zehn-Quadratmeter-Raum schliefen. Es gab nur eine Toilette für 200 oder 300 Menschen. Die Polizei kam in das Camp, verhaftete viele von uns und brachte mich in ein Gefängnis. Nach ein paar Tagen gaben sie mir ein Telefon und sagten, ich solle meine Familie anrufen. Ich werde niemals vergessen, wie meine Mutter am Telefon schrie, als die Wärter drohten, mit einer Machete meine Hand abzuschneiden und das Ganze zu filmen. Schliesslich schickte meine Familie das einzige Geld, dass sie hatte, um mich zu befreien. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich meiner Mutter all diesen Schmerz zugefügt habe. Seitdem habe ich nichts mehr von meiner Familie gehört. Sie wissen nicht, ob ich im Meer ertrunken bin. Ich möchte sie einfach nur anrufen und ihnen sagen, dass ich überlebt habe», sagt Akhtar*.

* Namen geändert