Ukraine: Unsichtbare Verletzungen heilen

Veranstaltung zur Gesundheitsförderung mit einer Gruppe von Kindern, ihren Eltern und Grosseltern.

Ukraine8 Min.

Im ukrainischen Winnyzja bietet Ärzte ohne Grenzen psychologische Betreuung für Menschen mit kriegsbedingten posttraumatischen Belastungsstörungen an. Kommunikationsverantwortliche Florence war für eine Reportage vor Ort und erzählt von ihren Eindrücken aus dem Land, in dem gegenseitige Hilfe eine wichtige Rolle spielt, um die Traumata des andauernden Konflikts zu überwinden.

Sonntagabend, Flughafen Genf.

Mit meiner Kollegin Fanny, die für audiovisuelle Inhalte zuständig ist, machen wir uns auf die Reise nach Warschau. Von da aus geht es weiter nach Rzeszów und noch eine Stunde später erreichen wir Przemyśl, eine Stadt im äussersten Südosten von Polen, wo wir die Nacht verbringen. Am nächsten Morgen geht es wieder früh weiter. Mit den Genehmigungen im Gepäck fahren wir zum Bahnhof, dem letzten vor der ukrainischen Grenze, über den alle Ein- und Ausreisen stattfinden. Die Schlange ist lang. Nach der Pass- und Gepäckkontrolle sitzen wir im Zug. Erster Halt. Soldaten steigen ein, sie tragen kugelsichere Westen und das Gewicht der patriotischen Pflicht. Über die Lautsprecher hören wir für ein Land im Krieg übliche Verbote. Lwiw: Der Bahnhof, den ich im Februar 2022 zu Beginn der russischen Offensive zum ersten Mal auf Fotos sah, ist jetzt menschenleer. Was für ein Gegensatz zu den Bildern von damals, auf denen die Bahnsteige überfüllt waren mit Menschen, die flüchteten. Bereits zwei Jahre dauert der Krieg nun an. Warnungen vor Luftangriffen und die Kriegsanstrengungen prägen das Leben der Menschen. Plötzlich ertönt auf den Telefonen aller Reisenden in unserem Wagon ein Alarm. Im Zug können wir nicht viel tun, also warten wir, bis er vorbei ist und die siebenstündige Fahrt zu Ende geht. Winnyzja. Wir sind am Ziel. Wir treffen unsere ukrainische Kollegin Diana, die auch Teil des Kommunikationsteams für die Reportage diese Woche ist. Abends zeigt uns der Logistiker Daniel die Unterkunft von Ärzte ohne Grenzen und insbesondere den Keller. Wir sollen daran denken, stets nachzufragen, «wo sich der Bunker befindet, wenn ihr irgendwo hingeht. Und wenn es einen Alarm gibt, sagt Bescheid, wo ihr seid.»

Dienstagmorgen, die Frühlingssonne scheint.

Ankunft im Zentrum von Ärzte ohne Grenzen. Im Erdgeschoss befinden sich das Logistikbüro und der Frühstücksraum. Im ersten Stock ist unser Zentrum für spezialisierte Behandlungen, wo Menschen mit kriegsbedingter posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) behandelt werden. Psycholog:innen, eine Ärztin und ein Psychiater empfangen hier jede Woche rund 30 Patient:innen. Im zweiten Stock finden sich die Büros des Teams, das sich um HR-Angelegenheiten, Finanzen und Gesundheitsförderung kümmert. In einer Infositzung erklären uns die medizinische Koordinatorin und die Projektkoordinatorin, wie das Zentrum funktioniert. Ich schreibe alles mit. Der Plan für die Woche steht und alle Mitarbeitenden sind über unsere Anwesenheit und unseren Einsatz informiert. Also machen wir uns in unserem dreiköpfigen, multikulturellen Kommunikationsteam an die Arbeit. Wir verbringen den Nachmittag in den Büros von l’Mariupol, einer Organisation, die Geflüchtete aus Mariupol unterstützt. Die Stadt war fast zwei Monate von Russland belagert und kontrolliert worden. Zusammen mit Partnerorganisationen wie l’Mariupol bietet das Team für Gesundheitsförderung von Ärzte ohne Grenzen Informationsveranstaltungen an. Im Rahmen von kreativen Workshops, z.B. Mal- oder Töpferworkshops, erhalten die Teilnehmenden Informationen zu Symptomen von PTBS und erfahren, wo sie sich Hilfe holen können. Die Gesundheitspromotor:innen kommen mit den Anwesenden ins Gespräch und können so Menschen, die von einer Behandlung profitieren könnten, weiterhelfen. Für uns geht der Tag mit Interviews weiter, wobei wir von Anastasia, unserer Dolmetscherin, unterstützt werden. Alina Roshevska, 20 Jahre, hat eine von Ärzte ohne Grenzen angebotene Therapie gemacht. Sie berichtet, wie diese ihr Leben verändert hat: «Der Heilungsprozess dauert lange und war kompliziert. Das passiert nicht über Nacht. Aber nach drei Monaten hörten die Panikattacken auf. Ich habe gelernt, mit ihnen umzugehen und sie zu kontrollieren.» Mittlerweile organisiert Alina selbst kulturelle Aktivitäten für die Organisation I’Mariupol. Sie hat sich in Winnyzja einen neuen Freundeskreis aufgebaut und blickt wieder mit Zuversicht in die Zukunft. Als nächstes haben wir die Möglichkeit, beim Makramee-Kurs dabei zu sein, der für Kinder in Begleitung ihrer Mutter oder Grossmutter organisiert wird. Nach dem Kurs lernen sie ausserdem Atemübungen, die dazu dienen, den Stress zu reduzieren. Die Kleinen machen ruhig und konzentriert mit. Wir bewundern noch die Kunstwerke, die sie in den letzten Monaten erstellt haben, danken ihnen für den herzlichen Empfang und verabschieden uns. Es wartet noch ein letztes Interview für diesen Tag auf uns. Im Zentrum treffen wir Gesundheitsberaterin Mariana. Sie erzählt von der Stigmatisierung rund um psychologische Behandlungen. «Ich ziehe oft Parallelen zwischen physischen und psychischen Verletzungen. Wenn man eine Wunde nicht desinfiziert oder behandelt, sondern sie einfach ignoriert, verheilt sie nicht, die Situation verschlechtert sich.» Mariana ist mit Leidenschaft bei der Sache. «Psycholog:innen können dabei helfen, Wege zu finden, mit einem Trauma zu leben, sie leisten Hilfe zur Selbsthilfe.» Ihre sanfte und wohlwollende Art überzeugt. Ich merke, wie verkrampft meine Hand den Kugelschreiber inzwischen hält. Es ist Zeit, für heute Schluss zu machen. Auf dem Rückweg bewundern wir noch kurz die blühenden Kirschbäume und arbeiten dann weiter. Die Notizen müssen überarbeitet, die Fotos ausgewählt und der morgige Tag vorbereitet werden.

Ich ziehe oft Parallelen zwischen physischen und psychischen Verletzungen. Wenn man eine Wunde nicht desinfiziert oder behandelt, sondern sie einfach ignoriert, verheilt sie nicht, die Situation verschlechtert sich.

Mariana Rachok, Gesundheitspromotorin in Winnyzja, Ukraine

Ein neuer Morgen im Zentrum von Ärzte ohne Grenzen.

Interviews stehen an. Nicht alle fühlen sich vor der Kamera wohl. Ich schreibe mit, was Anastasia übersetzt. Es fallen Wörter über die Hölle an der Front, die 20 Monate dauerte. Auf den Gesichtern erkennt man die Spuren der dort erlebten Traumata. Am Nachmittag geht es weiter zur Organisation Kherson Hub, die sich um die Geflüchteten der Stadt im Süden des Landes kümmert. Die Räumlichkeiten befinden sich in einem Gebäude aus der Sowjetzeit. Die Direktorin erwartet uns schon. Sie führt uns durch ein Labyrinth aus dunklen Gängen. Die Gruppe, dieses Mal ältere Menschen, heisst uns willkommen. Links im Raum stapelt sich Kleidung für alle Altersgruppen, rechts geht der Töpferkurs los. Man hört Lachen und Gesprächsfetzen, während die traditionellen ukrainischen Kunstobjekte Form annehmen. Die Aktivität ist eine wohlverdiente Auszeit im schmerzlichen Alltag der Geflüchteten. Die 74-jährige Lidia Bazualyeva hat am Vortag ihren Geburtstag gefeiert. «Die kreativen Aktivitäten haben mir mental geholfen, ebenso wie die Gespräche mit der Psychologin von Ärzte ohne Grenzen. Ich habe noch nie eine Veranstaltung verpasst, die von den Teams für Gesundheitsförderung organisiert wurde. Die Gruppe ist inzwischen zu meiner einzigen Familie geworden», sagt sie und hinter ihrem Lächeln spürt man die Emotionen. Die Erinnerungen sind noch lebendig, die Realität des Dramas stets präsent. Fanny fängt mit ihrer Kamera die vertrauten Blicke und tröstenden Gesten ein. Abends, als wir die Fotos durchgehen, springt mir das flüchtige Lächeln auf den Gesichtern der Menschen entgegen, die aufgrund der aktuellen Ereignisse gezwungen sind, neue Gemeinschaften zu bilden. Ich sehe die Stärke dieser Gruppe.

Lidia Bazualyeva, 74 Jahre.

Lidia Bazualyeva, 74 Jahre.

© Fanny Hostettler/MSF

Wie fast jede Nacht wachen wir wegen des Fliegeralarms auf. Meist sind es Flugzeuge, die über die Oblast von Winnyzja Richtung Kiew fliegen. Dann ist der Alarm wieder vorbei und wir versuchen, noch einige Stunden Schlaf zu finden. Am nächsten Tag arbeiten wir den ganzen Tag im Zentrum von Ärzte ohne Grenzen. Wir dokumentieren das Angebot an kreativen Aktivitäten und den Ablauf der Behandlungen. Eine der Patientinnen, der wir über den Weg laufen, erzählt uns, dass man sich hier selbst wiederfinden kann. Die Behandlung ermögliche es, langsam wieder zu der Person zu finden, die man vor dem Drama war. Und so die unsichtbaren Wunden zu heilen.

Letzter Tag.

Es stehen Interviews mit Patient:innen an, die eine Therapie absolviert haben, um ihre PTBS zu heilen. Es sind Momente seltener Intensität. Die 56-jährige Natalia Kyshnir überlebte die Belagerung von Mariupol. Sie beschreibt uns Einzelheiten des Lebens unter der Belagerung und den Bombardierungen. Und spricht von der schweren Entscheidung, die sie treffen musste: In Mariupol bleiben und sich um ihre alte Mutter kümmern oder mit ihrem kranken Sohn fliehen, der dringend Medikamente brauchte. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Erzählt von ihrer Therapie, dank der sie sich wie ein neuer Mensch fühle. Was für eine Kraft. Was für ein Mut. Auch das sind die Einsätze für Ärzte ohne Grenzen: Begegnungen mit aussergewöhnlichen Menschen; Momente, Gesichter und Worte, die man nicht mehr vergisst. Die Grosszügigkeit, mit denen die Menschen mir ihre Geschichten anvertrauen, überall auf der Welt, berührt mich sehr. Natalia betont noch einmal, wie dankbar sie für die Behandlung durch Ärzte ohne Grenzen ist. Und ich bin dankbar für alle Menschen, die ich treffen darf, dafür, dass ich Zeugin bin, wieviel Kraft und Schönheit in diesen Menschen liegt. Wir nehmen uns in die Arme und müssen uns schon wieder verabschieden. Wir fahren durch Winnyzja, in Trams aus Zürich, die hier in der Ukraine ihr zweites Leben leben.  Auf dem Bahnsteig verabschieden sich Soldaten von ihren Familien. Sie fahren in den Osten, an die Front. Wir machen uns auf den Weg in den Westen, Richtung Frieden. Einsatz abgeschlossen.

Portrait von Natalia Kyshnir, 56 Jahre.©Fanny Hostettler/MSF

Portrait von Natalia Kyshnir, 56 Jahre.

© MSF

In der Ukraine beschäftigen sich nur wenige Teams spezifisch mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Die Gesundheitspromotor:innen von Ärzte ohne Grenzen machen in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen Menschen ausfindig, die von den Behandlungen in unserem Zentrum für kriegsbedingte posttraumatische Belastungsstörungen profitieren könnten. In einem Erstgespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin und einer Psychologin stellen diese anhand von Tests und klinischer Beobachtung eine Diagnose und entwickeln dann ein Behandlungsprogramm. Dieses hängt vom psychischen Zustand der Person ab, umfasst im Durchschnitt aber 10 – 15 Konsultationen. Bei den Konsultationen wenden die Psycholog:innen evidenzbasierte Verfahren an, die auf die Bedürfnisse der Patient:innen abgestimmt werden und drei Phase umfasst: Stabilisierung, Behandlung der Traumata und Reintegration ins Sozialleben.

Text: Florence Dozol