Zum zweiten Mal vertrieben: Bericht eines MSF-Mitarbeiters in der Ukraine

Bahnhof in Lwiw, 08.03.2022

Ukraine3 Min.

Als am 24. Februar in Kiew die Dämmerung anbrach, hörte ich schon beim Erwachen Explosionen und Fliegeralarm. Mir wurde vor Angst ganz schlecht. Sofort wusste ich, dass mein Leben wie auch das Leben von vielen anderen nie mehr das gleiche sein würde. Der letzte Funken Hoffnung, den viele von uns trotz des unmittelbar drohenden Kriegs noch gehegt hatten, war nun endgültig ausgelöscht.

Aufgewachsen bin ich im Kohlegebiet der heutigen Ostukraine. Wir waren eine grosse Familie. In unserer Dreizimmerwohnung verbrachten wir viele vergnügte Abende bei Oliviersalat und Borschtsch. Nach meinem Sprachstudium in Horliwka verliess ich die Ukraine und ging in die USA. Doch meiner Familie wegen kehrte ich schliesslich wieder in meine Heimat zurück.

2014 brach der Krieg aus. Ich musste nach Kiew ziehen, wo ich mich als intern Vertriebener registrierte. Nach einer Weile hatte ich mich in der Stadt eingelebt und begann, für zivilgesellschaftliche Organisationen zu arbeiten. Mit einer weltweiten Vereinigung engagierte ich mich bei der Bekämpfung von Armut. Schliesslich führte mich mein Weg zu Ärzte ohne Grenzen (MSF). Der Fokus der Organisation lag auf einem verbesserten Zugang zu Gesundheitsversorgung in der Ostukraine – der Region, die mir immer noch sehr am Herzen lag, auch wenn ich nun in Kiew lebte.

Die Tragödie, die sich damals in der Ostukraine ereignete, hat nun das ganze Land erfasst. In kürzester Zeit wurden Millionen von Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Viele sind Binnenvertriebene und rund zwei Millionen sind in die umliegenden Länder geflüchtet.

Der Krieg ist zurück – und zwar mit solcher Kraft und Brutalität, dass ich befürchte, dass wir alle Schäden davontragen werden.

Auch ich selbst bin nun wieder ein Vertriebener. Als es in Kiew zu massiven Luftangriffen und Strassengefechten kam, traf ich die schmerzliche Entscheidung, die Stadt zu verlassen. Zunächst war ich noch geblieben, auch als schon Hunderttausende die Stadt verliessen. Tagelang hörte ich nur den Lärm der einschlagenden Granaten, Raketen und Schüsse. Als mich eines Tages meine Kollegen anriefen und mir sagten, dass bald die letzten humanitären Konvois Kiew verlassen würden, geriet ich in Panik. Es fühlte sich an, als ob alles menschliche Leben aus der Stadt gewichen wäre. Schnell stopfte ich ein paar Kleider in eine Tasche, suchte die wichtigsten Dokumente zusammen und fuhr mit meinem Auto aus Kiew hinaus. 

Nun bin ich also unterwegs – inmitten der riesigen Menschenströme, die sich Richtung Westen des Landes bewegen. Ich fühle mich verloren und orientierungslos. Ich bin wütend auf diesen furchtbaren Krieg und fassungslos über das sinnlose Leiden, das viele erdulden müsen. Ich darf gar nicht daran denken, was als Nächstes kommt.

Dennoch geht es mir immer noch besser als meinen Bekannten in der Ostukraine, die momentan die Hölle durchleben. Das eingekesselte Mariupol, Wolnowacha, das nur noch eine Geisterstadt ist … Auch Schulen, Spitäler und Wohngebäude gerieten unter Beschuss. Alles, was seit dem Krieg 2014 in der Ostukraine aufgebaut wurde, ist wieder weg.

Die Ostukraine hatte in letzter Zeit viel an der Festigung und Stärkung ihrer Infrastruktur und öffentlichen Dienste gearbeitet; selbst Hilfsorganisationen setzten vermehrt auf Entwicklungsförderung, anstatt Hilfe zu leisten. Auch Ärzte ohne Grenzen war immer mehr dazu übergegangen, das öffentliche Gesundheitssystem zu unterstützen, anstatt direkt Gesundheitsleistungen anzubieten. So halfen wir einem Netzwerk aus Freiwilligen, die den Menschen in abgelegenen Regionen – häufig älteren Personen – dabei halfen, sich frühzeitig behandeln zu lassen und Medikamente bei Apotheken abzuholen. 

Meine Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen ist nun angesichts dieser komplett veränderten Situation nicht mehr möglich. Vielen meiner Kolleg:innen ergeht es genauso. Doch selbst unter den widrigsten Umständen haben sie alles gegeben, um medizinische Nothilfe zu leisten.

Ich selbst möchte auch mehr tun, um irgendwie zu helfen. Aber ich bin in einem Strudel gefangen, wo nichts mehr ist, wie es vorher war. Wir werden unsere ganzen Kräfte aufwenden müssen, um uns eines Tages davon zu erholen, was uns im Moment widerfährt.

Aleksandr Burmin (Name geändert) arbeitet für Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine.