Griechenland: EU-Türkei-Abkommen verursacht weiterhin Not und Verzweiflung
© MSF/Anna Pantelia
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Drei Jahre sind seit der Unterzeichnung des EU-Türkei-Abkommens vergangen. MSF ruft die europäischen Entscheidungsträger dazu auf, die desaströse Eindämmungspolitik in den «Hotspots» auf den griechischen Inseln zu beenden und eine sofortige Evakuation aller schutzbedürftigen Menschen, insbesondere der Kinder, zu veranlassen. Es müssen geeignete Unterkünfte auf dem griechischen Festland oder in anderen EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden.
Das EU-Türkei-Abkommen führte dazu, dass in den letzten drei Jahren Tausende Männer, Frauen und Kinder unter entwürdigenden und unsicheren Bedingungen in überfüllten Lagern mit prekären Hygienebedingungen festgehalten wurden. Körperliche und mentale Krankheiten, die auf die Lebensbedingungen in den Lagern zurückzuführen sind, sind weit verbreitet und verursachen grosse Not und Leid.
Überfüllte Lager, prekäre Lebensbedingungen
«Griechenland ist zu einem Abstellplatz für Männer, Frauen und Kinder geworden, für deren Schutz die EU nicht aufkommt», erklärt Emmanuel Goué, MSF-Landeskoordinator in Griechenland. «Was als Flüchtlingsnotlage ausgerufen wurde, hat in der Folge auf den griechischen Inseln und auf dem griechischen Festland zu einem nicht entschuldbaren Ausmass an menschlichem Leid geführt. Die EU und die griechischen Behörden rauben den Menschen ihre Würde und ihre Gesundheit; wie es scheint, um andere davon abzuhalten, nachzukommen. Diese Politik ist grausam, unmenschlich und zynisch – und sie muss beendet werden.»
Diese Politik ist grausam, unmenschlich und zynisch – und sie muss beendet werden.
Als Folge des EU-Türkei-Abkommens sitzen momentan rund 12’000 Männer, Frauen und Kinder in den fünf Hotspots auf den griechischen Inseln fest, wo sie unter furchtbaren Bedingungen auf das Ergebnis ihrer Asylanträge warten. Die Asylverfahren sind komplex und können die Antragsteller bis zu drei Jahren in Warteposition halten. Im Lager in Vathy auf Samos haben sich die Zustände in den letzten drei Monaten drastisch verschärft, da das Camp hoffnungslos überfüllt ist. MSF hat deshalb erneut ein medizinisches Team auf die Insel geschickt. Das Camp beherbergt zurzeit mehr als 4112 Menschen an einem Ort, der für 648 Menschen bestimmt war. So sind nun Tausende von Menschen gezwungen, schutzlos in der schmutzigen und unsicheren Umgebung ausserhalb des offiziellen Camps auszuharren. In den Zelten ausserhalb des Camps leben mindestens 79 unbegleitete Kinder, schwangere Frauen, ältere Menschen, Menschen mit chronischen Krankheiten oder akuten psychischen Erkrankungen wie Psychosen, sowie Folterüberlebende und Überlebende sexueller Gewalt.
Auch auf Lesbos und Chios arbeiten MSF-Teams in den übervollen Camps: Das Camp Moria beherbergt 5225 Menschen anstelle der vorgesehenen 3100, das Camp Vial auf Chios 1361 anstelle der vorgesehenen 1014. Wie auf Samos behandeln die MSF-Teams auch hier insbesondere Patientinnen und Patienten mit körperlichen und psychischen Erkrankungen, die auf die miserablen Lebensbedingungen, die langen Wartezeiten in den Asylverfahren und die ursächlichen Gründe, die die Menschen in die Flucht gezwungen haben, zurückzuführen sind.
Versagen der EU und der griechische Regierung
«Seit drei Jahren versagen die EU und die griechische Regierung dabei, menschliche Lebensbedingungen zu schaffen und eine angemessene medizinische Versorgung für die Menschen, die auf den griechischen Inseln gefangen sind, bereitzustellen», erklärt Vasilis Stravaridis, Generaldirektor von MSF Griechenland. «Im Vathy-Camp auf Samos lebt mehr als die Hälfte der Campbewohnerinnen und -bewohner in Sommerzelten oder unter Plastikplanen, die von Müll und menschlichen Exkrementen umgeben sind. In den Monaten seit unserer Rückkehr nach Samos haben wir schwangere Frauen und Menschen mit chronischen Erkrankungen behandelt sowie Gruppensitzungen für Patientinnen und Patienten mit psychischen Gesundheitsproblemen durchgeführt. Wir planen, unsere Aktivitäten in den nächsten Wochen auszubauen, damit mehr Menschen behandelt werden können.»
Seit drei Jahren versagen die EU und die griechische Regierung dabei, menschliche Lebensbedingungen zu schaffen und eine angemessene medizinische Versorgung für die Menschen, die auf den griechischen Inseln gefangen sind, bereitzustellen.
Erschwerter Zugang zu medizinischer Versorgung
Auch auf dem griechischen Festland sind Tausende von Migrantinnen und Migranten, die nach der Unterzeichnung des EU-Türkei-Abkommens nach Griechenland kamen, gezwungen, in Camps, in temporären Unterkünften der UNO oder von NGOs, in besetzten Häusern oder auf der Strasse zu leben. Der Zugang zu medizinischer Versorgung stellt alle vor grosse Probleme. Die psychologischen Teams von MSF behandeln Menschen, die unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angstzuständen und Psychosen leiden, und sie unterstützen Folterüberlebende im Rehabilitationsprozess. Die Unterbringungssituation ist gemäss den Psychologinnen und Psychologen von MSF das vordringlichste Problem.
«Wie kann eine Frau ihr Trauma aufgrund von erlebter sexueller Gewalt verarbeiten, wenn sie gezwungen ist, auf der Strasse zu leben?», fragt Goué. «Einerseits lebt sie in der beständigen Angst eines erneuten Übergriffs, andererseits wäre es gefährlich für sie, die notwendigen Medikamente einzunehmen, da diese schläfrig machen. Ohne sichere Unterkünfte ist eine Genesung nicht möglich, und wir haben es in ganz Griechenland mit einem massiven Mangel an sicheren Unterkünften für unsere besonders schutzbedürftigen Patientinnen und Patienten zu tun.»
Ohne sichere Unterkünfte ist eine Genesung nicht möglich, und wir haben es in ganz Griechenland mit einem massiven Mangel an sicheren Unterkünften für unsere besonders schutzbedürftigen Patientinnen und Patienten zu tun.
Während die Gesamtzahl der neu registrierten Flüchtlinge seit 2016 deutlich zurückgegangen ist, sind seit Anfang 2019 über 5000 Männer, Frauen und Kinder in Griechenland angekommen. Die meisten kommen aus vom Krieg zerrütteten Ländern wie Afghanistan, Syrien, Irak oder der Demokratischen Republik Kongo, mehr als die Hälfte davon sind Frauen und Kinder. Es zeigt sich, dass die Eindämmungs- und Abschreckungspolitik der EU in Bezug auf Migration gescheitert ist. Alternative und sichere Wege für Menschen auf der Flucht wurden keine geschaffen.
Unsere Tätigkeiten
MSF bietet seit 1996 medizinische und humanitäre Hilfe für Asylsuchende und Migrantinnen und Migranten in Griechenland. 2014 hat MSF die Aktivitäten in Griechenland ausgebaut, um auf die Bedürfnisse der wachsenden Zahl an Asylsuchenden, Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten, die aus der Türkei auf die griechischen Inseln oder das griechische Festland kommen, eingehen zu können. Seit 2016 bieten die medizinischen Teams von MSF in Griechenland medizinische Grundversorgung, Behandlungen chronischer Krankheiten, sexuelle und reproduktive Gesundheitsversorgung, Physiotherapie, klinisch-psychologische Versorgung und psychiatrische Betreuung an, ebenso eine umfassende soziale Unterstützung. MSF arbeitet zurzeit auf den Inseln Lesbos, Samos und Chios sowie im Zentrum von Athen.
© MSF/Anna Pantelia