JesidInnen im Irak: Zahlreiche Selbstmorde und Selbstmordversuche
© Emilienne Malfatto
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Die internationale humanitäre Organisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) warnt vor einer Krise im Bereich der psychischen Gesundheit unter der jesidischen Gemeinschaft im Bezirk Sinjar, im nordwestlichen Irak.
Zwischen April und August 2019 hatten 24 Patienten, die in die Notaufnahme des Spitals von Sinuni gebracht wurden, Selbstmordversuche unternommen – sechs von ihnen starben vor der Ankunft oder konnten nicht mehr gerettet werden. Von den 24 Personen waren 46 Prozent unter 18-jährig, die jüngste war ein 13-jähriges Mädchen, das sich erhängt hatte und bei der Ankunft in der Notaufnahme tot war. 54 Prozent waren Frauen oder Mädchen, vier starben an Selbstverbrennung. Andere hatten versucht, sich durch Selbstverletzung an den Handgelenken, Einnahme von Gift, Überdosierung von Medikamenten oder mit Schusswaffen das Leben zu nehmen.
Die kleine Stadt Sinuni war für die lange verfolgte irakische Minderheit der Jesiden, die in der Region verblieben, zum Mittelpunkt geworden. Seit Dezember 2018 bietet Ärzte ohne Grenzen hier Sprechstunden zur psychischen Gesundheit an. Seither wurden 286 Personen in das Programm aufgenommen, von denen sich 200 noch heute in Behandlung befinden. Die häufigste Diagnose sind Depressionen (40 Prozent), gefolgt von Konversionsstörungen (18 Prozent) und Angststörungen (17 Prozent). Eine Konversionsstörung ist ein psychischer Zustand, bei dem ein Patient Erblindung, Lähmung oder andere Symptome im Nervensystem erfährt, die nicht durch medizinische Untersuchungen erklärt werden können. Ebenfalls diagnostiziert wurden einige Persönlichkeitsstörungen sowie posttraumatische Belastungsstörungen (3 Prozent). Obwohl die psychiatrischen Dienste von Ärzte ohne Grenzen in der Region in den vergangenen Monaten ausgebaut wurden, sind sie inzwischen komplett überlastet und führen eine Warteliste.
Dringend mehr Investitionen in die psychische Gesundheitsversorgung nötig
Am Welttag der psychischen Gesundheit fordert Ärzte ohne Grenzen eine Erhöhung der internationalen und nationalen Investitionen in die psychische Gesundheitsversorgung - nicht nur für den Bezirk Sinjar, sondern für den gesamten Irak, der noch immer stark von jahrelangen brutalen Kriegen und wirtschaftlicher Instabilität geprägt ist.
«Unsere erste Umfrage zur psychischen Gesundheit im Jahr 2018 in Sinuni ergab, dass 100 Prozent der befragten Familien mindestens ein Mitglied hatten, das entweder mässig oder schwer an einer psychischen Erkrankung litt», so Dr. Marc Forget, Einsatzverantwortlicher von MSF im Irak. Das Ausmass des Bedarfs wurde von den Behörden bestätigt. «Als wir uns mit dem leitenden Arzt des Spitals von Sinjar, der stark zerstörten Stadt auf der anderen Seite des Sinjar-Berges trafen, sagte uns dieser, dass alle im Bezirk psychische Betreuung benötigten, auch er selbst. Es passte zu dem, was wir zu Beginn unserer Aktivitäten bald erkannten: dass wir es mit einer schweren Krise im Gebiet der psychischen Gesundheit zu tun hatten, und dass dies direkt mit dem kollektiven Trauma zusammenhing, das die Jesiden kurz zuvor erfahren hatten.»
Viele Jesiden wollen nicht in ihre Heimat zurückkehren
Im August 2014 griff der Islamische Staat (IS) die in der Region lebende religiöse Minderheit der Jesiden an. Es folgten eine anhaltende Kampagne von Morden, Vergewaltigungen, Entführungen und Versklavungen, aus der eine Massenmigration resultierte, hauptsächlich in Lager in angrenzende kurdische Gebiete. Die UNO hat die Gräueltaten des IS in der Region Sinjar als Völkermord anerkannt. Während das Sinjar-Gebiet vor mehr als vier Jahren zurückerobert wurde, kehrten die Geflohenen nur langsam zurück. Bis heute ziehen es viele jesidische Familien vor, im irakischen Kurdistan zu bleiben, anstatt in ihre Heimat zurückzukehren. Das liegt zum einen daran, dass viele Häuser und Dörfer zerstört wurden, mit Landminen übersät sind und über keine Grundversorgung wie Wasser oder Strom verfügen, zum andern aber auch am Trauma, das viele Jesiden heute mit ihrer Heimat verbinden.
Trotz der Dringlichkeit der Situation in Sinjar können wir im Irak keine qualifizierten Psychiater und Psychologen finden, die mit uns zusammenarbeiten.
«Das Gefühl der Trauer, wenn dein Mann stirbt, dein Kind krank ist, wenn du dich von deinem Partner trennst oder wenn du gezwungen bist, von deiner Familie weg zu sein, ist universell. Aber das Ausmass des Verlustes in dieser Gemeinschaft ist unfassbar und wird durch das Trauma von extremer Gewalt, Erniedrigung, Massenvertreibung, Armut und Vernachlässigung noch verstärkt. Wie Ihnen jeder hier sagen wird, war der durch den IS verübte Völkermord nicht der erste, den die Jesiden überlebt haben, es war der 74», fährt Goulding fort, die in der Notaufnahme von Ärzte ohne Grenzen in Sinuni arbeitet.
Die Ärztin unterstützte die MSF-Teams vor Ort bei der der psychiatrischen Versorgung von Patienten während zwei Monate in diesem Jahr, da im Irak kein Psychiater gefunden werden konnte. Dies ist bezeichnend für das Land, in dem es nicht genügend ausgebildete Fachleute in den Gebieten Psychologie und Psychotherapie gibt, um den immensen Bedarf im Bereich der psychischen Gesundheit zu decken, der in den von Gewalt geprägten Jahren entstanden ist.
«Wir von Ärzte ohne Grenzen sind daher gezwungen, internationales Personal zur Unterstützung beizuziehen, was nicht ideal und langfristig auch nicht nachhaltig ist», betont Forget. «Im Bereich der psychischen Gesundheitsversorgung braucht es definitiv mehr Mittel und mehr Medikamente; der grösste Bedarf besteht jedoch beim qualifizierten Personal. Zentral ist auch, dass diese Fachleute in den besonders darauf angewiesenen Regionen eingesetzt werden, in den ländlichen und konfliktbelasteten Gebieten des Landes.»
Ärzte Ohne Grenzen in Sinuni
Ein Team von Ärzte ohne Grenzen unterstützte ab Dezember 2018 das Spital von Sinuni zunächst in den Bereichen Notfallversorgung und Geburtshilfe und erkannte schnell, dass in der Region bei der psychischen Gesundheitsversorgung ein enormer ungedeckter Bedarf besteht. In der Folge hat das Team diese Aktivitäten im Spital Sinuni ausgebaut. Zudem wurden Gruppensitzungen und mobile psychiatrische Kliniken für die Vertriebenen am Berg Sinjar eingeführt.
Seit Anfang 2019 haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen neben der psychischen Gesundheitsversorgung 9970 Konsultationen in der Notaufnahme durchgeführt, 6390 Menschen stationär behandelt, und es wurden 475 Frauen dabei unterstützt, ihre Babys sicher zur Welt zu bringen.
© Emilienne Malfatto