MSF fordert Stopp der willkürlichen Inhaftierung von auf dem Mittelmeer abgefangenen Flüchtlingen
© Christophe Biteau/MSF
Libyen4 Min.
Die Hilfsorganisation MSF protestiert gegen die willkürliche Inhaftierung von Bootsflüchtlingen in Libyen. Die Menschen werden zu Tausenden von der EU-finanzierten libyschen Küstenwache auf dem Mittelmeer abgefangen und nach Libyen zurückgezwungen.
Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat die libysche Küstenwache in diesem Jahr mindestens 11.800 Menschen auf seeuntüchtigen Booten aufgegriffen und zurückgebracht – so viele wie noch nie. Beinahe täglich stoppt die libysche Küstenwache Boote in internationalen Gewässern zwischen Libyen, Italien und Malta. An Land werden die Menschen in ungeregelten Internierungslagern entlang der Küste eingesperrt.
Diese Menschen haben alle gerade ein traumatisches Erlebnis auf dem Meer hinter sich, bei dem es um Leben und Tod ging. Sie dürfen nicht in ein System willkürlicher Inhaftierung gezwungen werden, das sie schädigt und ausbeutet.
«Viele haben in Libyen ein schockierendes Ausmass an Gewalt erlitten und sind systematisch ausgebeutet worden. Sie sind Opfer von sexueller Gewalt, von Menschenhandel, Folter und Misshandlung geworden. Besonders schutzbedürftig sind Kinder, die manchmal auch ohne Eltern oder andere Begleiter unterwegs sind, Schwangere, stillende Mütter, ältere Menschen, Menschen mit psychischen Behinderungen oder mit schwerwiegenden medizinischen Problemen.»
Eine sehr zweifelhafte Massnahme
Es gibt in den Internierungslagern keine formelle Registrierung und keine funktionierende Dokumentation der Gefangenen. Sobald die Menschen dort eingesperrt sind, gibt es keine Möglichkeit nachzuverfolgen, was mit ihnen geschieht. Die Gefangenen haben keine Chance, die Rechtmässigkeit ihrer Haft und ihre Behandlung in den Lagern überprüfen zu lassen. Programme der UN-Migrationsorganisation IOM und des UNHCR, die Gefangene einen Weg aus der willkürlichen Inhaftierung bieten sollen, wurden zwar Ende vergangenen Jahres ausgeweitet, helfen aber nur einem kleinen Teil der Flüchtlinge und Migranten in Libyen.
Die Hauptmassnahme waren so genannte freiwillige Rückkehrprogramme der IOM, durch die seit November etwa 15.000 Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht wurden. Für manche, die wirklich nach Hause zurückkehren wollen, ist es positiv, dass sie so der willkürlichen Haft in Libyen entkommen können. Aber die Freiwilligkeit dieses Programms ist ausserordentlich fragwürdig, da es für die Menschen keine andere Möglichkeit gibt, aus den Internierungslagern zu entkommen. Zusätzlich hat das UNHCR etwas mehr als 1.000 der verletzlichsten gefangenen Flüchtlinge aus dem Land gebracht, meist nach Niger, von wo aus sie in andere Länder umgesiedelt werden sollen.
Überfüllte Inhaftierungseinrichtungen
Als Folge der vielen von der libyschen Küstenwache aufgegriffenen Menschen beobachten die Teams von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Tripolis, Khoms und Misrata eine stark steigende Zahl von Flüchtlingen und Migranten in den schon jetzt überfüllten Haftlagern. In einem der Internierungslager in Tripolis hat ein Team an einem einzigen Tag 319 Menschen behandelt, die monatelang von Schleppern gefangen gehalten worden waren, bevor sie auf dem Mittelmeer aufgegriffen worden waren. In der Region von Misrata und Khoms behandeln Teams von MSF Gefangene mit Verätzungen zweiten Grades, Krätze, Atemwegsinfektionen und Austrocknung. Einmal wurden Menschen, die auf dem Meer alles verloren hatten, sogar ohne Kleider am Leib in ein Internierungslager gebracht.
«In Khoms leben mehr als 300 Menschen in einem überfüllten Internierungslager, unter ihnen auch sehr kleine Kinder. Die Hitze ist drückend, es gibt keine Lüftung und nur sehr wenig Zugang zu sauberem Trinkwasser. Es gibt nur verschmutztes Salzwasser», sagt Anne Bury, stellvertretende medizinische Koordinatorin in Libyen. «Die Situation in den Haftanstalten ist untragbar. Die Menschen sind Missbrauch aller Art ausgesetzt. Sie sind verzweifelt. Wir sehen Gefangene mit Wunden und Knochenbrüchen. Es gibt Fluchtversuche, einige Menschen sind im Hungerstreik.»
Eine inakzeptable europäische Strategie
Die Situation in den Internierungslagern ist eine Folge der Politik der europäischen Regierungen, Schutzsuchende um jeden Preis von Europa fernzuhalten. Ein entscheidender Teil dieser Strategie ist es, die libysche Küstenwache auszurüsten und zu unterstützen, was sie erst in die Lage versetzt, Menschen auf dem Mittelmeer aufzuhalten. Menschen nach Libyen zurückzubringen, ist allen europäischen Schiffen nach internationalem Recht verboten, da Libyen kein sicherer Ort ist.
«Menschen nach Libyen zurückzubringen, ist keine akzeptable Lösung, um zu verhindern, dass Menschen in Europa ankommen», erklärt Karline Kleijer. «Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, die auf dem Meer aufgegriffen werden, dürfen nicht nach Libyen zurückgezwungen werden. Sie dürfen nicht willkürlich unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt werden.»
MSF leistet seit rund zwei Jahren medizinische Hilfe für Geflüchtete und Migranten in Internierungslagern in Tripolis, Khoms und Misrata, die offiziell unter Kontrolle des Innenministeriums der international anerkannten Einheitsregierung und ihrer Agentur zur Bekämpfung Illegaler Migration (DCIM) stehen. Die Festgehaltenen haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung – diese wird durch wenige im Land präsente humanitäre Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder UN-Agenturen erbracht.
Die Teams von MSF behandeln Gefangene wegen medizinischer Probleme, die durch die unmenschlichen Zustände in den Lagern ausgelöst werden. Darunter fallen Atemwegsinfektionen, Durchfallerkrankungen sowie Hautinfektionen wie Krätze und Harnwegsentzündungen. Menschen mit schwerwiegenden Gesundheitsproblemen werden an Spitäler überwiesen, was vielen das Leben rettet. Viele Patienten haben Selbstmordgedanken und weisen Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen auf. Ärzte ohne Grenzen sehen oft Patienten mit psychiatrischen Krankheiten, die durch die Inhaftierung ausgelöst oder verstärkt werden und die eine stationäre Behandlung brauchen.
© Christophe Biteau/MSF