MSF ist zum Rückzug aus Somalia gezwungen
Somalia / Somaliland4 Min.
Missbrauch und Manipulation der humanitären Hilfe zwingen MSF, alle medizinischen Hilfsprogramme in Somalia einzustellen. Bewaffnete Gruppen sowie die Tatsache, dass gewalttätige Angriffe gegen MSF auch von zivilen Führungen unterstützt und akzeptiert wurden, führten dazu, dass die erforderlichen Sicherheitsgarantien nicht mehr gewährleistet waren.
Nach ununterbrochener Tätigkeit seit 1991 verkündet die internationale medizinische Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières / Ärzte ohne Grenzen (MSF) heute die Schliessung all ihrer Programme in Somalia. Dies ist das Resultat wiederholter Angriffe auf MSF-Mitarbeiter in einem Klima, in dem bewaffnete Gruppen und zivile Führer zunehmend unterstützen oder dulden, dass humanitäre Helfer entführt, angegriffen oder getötet werden.
Insbesondere im Süden Somalias kam es vor, dass MSF mit denselben Akteuren über die Sicherheitsbedingungen verhandeln musste, die bei den Übergriffen auf MSF-Mitarbeiter eine Rolle spielten. Teilweise waren sie direkt daran beteiligt oder gaben ihre Zustimmung aus taktischen Gründen. Gemäss MSF sind es diese Handlungen oder die Akzeptanz dieser Situation, die dazu geführt haben, dass Hunderttausende somalische Zivilisten nun von humanitärer Unterstützung abgeschnitten sind.
Während ihrer 22-jährigen Anwesenheit in Somalia verhandelte MSF mit bewaffneten Akteuren und Behörden auf allen Seiten. Die immensen humanitären Bedürfnisse in Somalia brachten die Organisation und ihre Mitarbeiter dazu, beispiellose Risiken auf sich zu nehmen. Diese wurden zu einem grossen Teil von den somalischen MSF-Mitarbeitenden getragen. Zudem ging die Organisation beträchtliche Kompromisse in Bezug auf ihre Handlungsgrundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ein.
Zu den jüngsten Vorfällen zählen die brutale Tötung zweier MSF-Mitarbeiter in Mogadischu im Dezember 2011 und die anschliessende vorzeitige Freilassung der verurteilten Mörder sowie die gewaltsame Entführung von zwei Mitarbeitern aus einem Flüchtlingslager im kenianischen Dadaab. Die Entführung endete erst im vergangenen Monat nach 21-monatiger Geiselhaft im Süden von Somalia. Seit 1991 waren vierzehn weitere MSF-Mitarbeiter getötet worden, und die Organisation erlebte Dutzende von Angriffen auf Mitarbeiter, Krankenwagen und medizinische Einrichtungen.
«Mit der Entscheidung, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zu töten, anzugreifen und zu entführen, haben diese bewaffneten Gruppen sowie die zivilen Autoritäten, die deren Vorgehen tolerieren, das Schicksal unzähliger Menschen in Somalia besiegelt», erklärt Dr. Unni Karunakara, Präsident von MSF International. «Wir beenden unsere Programme in Somalia, weil unsere Möglichkeiten zu helfen in keinem Verhältnis mehr zu den Kompromissen und Risiken stehen, die unsere Mitarbeiter tragen mussten.»
Um in Somalia tätig sein zu können, musste MSF ausserdem auf bewaffnete Sicherheitsleute zurückgreifen, was die Organisation sonst in keinem Land tut. Auch bei der unabhängigen Beurteilung der Bedürfnisse der Bevölkerung und der Reaktion darauf mussten starke Einschränkungen in Kauf genommen werden.
Humanitäre Arbeit erfordert von allen Konfliktparteien und Gemeinschaften ein Mindestmass an Anerkennung der medizinischen humanitären Arbeit. Die Leistung von medizinischer Hilfe muss erlaubt und die Handlungsprinzipien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit müssen akzeptiert werden. Darüber hinaus müssen alle Beteiligten die Bereitschaft zeigen, ausgehandelte minimale Sicherheitsgarantien für Patienten und Mitarbeiter aufrechtzuerhalten. Diese Bereitschaft ist in Konfliktzonen immer schwach und existiert heute in Somalia nicht mehr.
«Letztendlich sind es die Zivilisten, die in Somalia den höchsten Preis zahlen», betont Dr. Karunakara. «Ein Grossteil der somalischen Bevölkerung hat das Land noch nie ohne Krieg oder Hungersnot erlebt. Bereits jetzt erhält die Bevölkerung weit weniger Hilfe, als sie benötigen würde. Wegen der Angriffe der bewaffneten Gruppen auf die humanitäre Hilfe und deren Akzeptanz durch lokale Führer verliert die somalische Bevölkerung nun noch den letzten Zugang zu medizinischer Versorgung.»
MSF wird alle medizinischen Programme in Somalia schliessen, darunter diejenigen in der Hauptstadt Mogadischu und den Vororten von Afgooye und Daynille, sowie in Balwad, Dinsor Galkayo, Jilib, Jowhar, Kismayo, Marere und Burao. Mehr als 1’500 Mitarbeiter erbrachten eine Reihe von Dienstleistungen, einschliesslich kostenloser medizinischer Grundversorgung, Behandlung von Mangelernährung, Projekten für die Gesundheit von Müttern, chirurgischer Eingriffe, Bekämpfung von Epidemien, Impfkampagnen sowie der Lieferung von Wasser und Hilfsgütern. Allein im Jahr 2012 haben die Teams von MSF mehr als 624’000 ärztliche Behandlungen durchgeführt, 41’100 Patienten in Spitäler aufgenommen, 30’090 mangelernährte Kinder behandelt, 58’620 Menschen geimpft und 7’300 Geburten betreut.
Die 22 Jahre Tätigkeit in Somalia haben den MSF-Mitarbeitern immer wieder deutlich gemacht, wie gross die Bedürfnisse der somalischen Bevölkerung sind. MSF ist es nach wie vor ein Anliegen, diesen Menschen mit humanitärer und medizinischer Hilfe beizustehen. Dies bedingt jedoch, dass alle Beteiligten in Somalia dazu beitragen, dass diese Hilfsleistungen auch erbracht werden können und die Sicherheit der humanitären Helfer dabei gewährleistet ist.