„Bald werden die Leute zwischen Unterkunft, Nahrung oder Booten wählen müssen.“
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Die Expertin für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung Claire Dorion erzählt nach ihrem zweiwöchigen Einsatz in den Philippinen von den Problemen der Menschen vor Ort und wie ihnen Hilfe gebracht wird.
„Während der ersten beiden Tage meines Einsatzes erkundeten wir die Situation per Helikopter. Da wir einen sehr kleinen Helikopter gemietet hatten, konnten wir fast überall landen. Wir sind über die Ostküste der Hauptinsel Panay und die umliegenden kleineren Inseln geflogen. Fast alles war zerstört. Auf einigen der abgelegenen Inseln waren wir eine Woche nach dem Taifun der erste Kontakt zur Aussenwelt. Seit vierzehn Jahren leiste ich Hilfseinsätze, aber noch nie bin ich Menschen begegnet, die sich so auf uns gestürzt haben. Einige sind mir buchstäblich in die Arme gesprungen!
Die Menschen auf den Philippinen sind sich an Katastrophen gewöhnt: In den Dörfern– oder Barangays, wie sie hier heissen – setzen sich sofort viele Mechanismen in Gang. Jedes Dorf hat einen Vorsteher, der die Hilfsmassnahmen leitet. Diese Vorsteher sind unsere Verbindungspersonen, wenn die Teams beispielsweise Verteilungen organisieren.
95 Prozent der Boote zerstört
Wie immer, wenn ein Taifun angekündigt wird, bereitete sich die Bevölkerung auf starken Wind und Regen vor. Aber Haiyan trieb ähnlich wie ein Tsunami eine riesige Welle aufs Land. An einigen Stellen türmte sich die Welle sechs Meter hoch auf. Alles, was sich in den Häusern befand, wurde fortgerissen. Dass 95 Prozent der Boote zerstört wurden, war besonders schlimm, weil die Küstenbewohner ihre Boote nicht nur als Transportmittel, sondern auch für ihren Lebenserwerb, das Fischen, benötigen. Ich habe ein Küstendorf auf Panay besucht, das hauptsächlich von der Fischerei und der Kokosernte lebt. Der Taifun vernichtete dort neun von zehn Bäumen und die Wellen zerschmetterten sämtliche Boote. Wenn nichts getan wird, dürfte es in den kommenden Monaten zu schweren Engpässen bei der Nahrungsversorgung kommen. Die Menschen werden bald wählen müssen, was für sie am wichtigsten ist: Unterkunft, Nahrung oder Boote. Sie werden wohl zuerst die Boote reparieren.
Trinkwasser durch Flutwelle versalzt
Bei der Trinkwasserversorgung, meinem Spezialgebiet, gibt es noch viel zu tun. Das Problem ist nicht der Wassermangel, sondern vielmehr, dass die Menschen nicht wissen, ob ihr Wasser ohne Gefahr getrunken werden kann. Vielerorts wurden Quellen durch die Meeresflut versalzt und das Leitungsnetz zerstört. Je nach Versorgungssystem und Umfang der Zerstörung verteilen wir Tabletten zur Wasseraufbereitung an die Haushalte, desinfizieren die Brunnen mit Chlor oder reparieren die Pumpen und Leitungssysteme. Wir haben unsere Hilfe auf die kleinen Inseln vor Panay konzentriert. Dort dienten die wenigen intakt gebliebenen Boote dazu, das auf andern Inseln gekaufte Trinkwasser zu transportieren. Dank der Sanierung der Wasserstellen können diese Boote jetzt für andere Zwecke verwendet werden.
Ölteppich nach gekentertem Lastkahn
Der Taifun richtete auch einzelne örtlich beschränkte Katastrophen an: Im Hafen von Estancia kenterte ein Lastkahn und der Treibstoff lief aus. Der Ölteppich trieb nur wenige Meter vor den Behausungen auf dem Wasser. Der Gestank war furchtbar und die giftigen Dämpfe gefährdeten die Anwohner. Wir haben zwei Lager aufgebaut, wo die Leute vorübergehend bleiben können und Zugang zu Trinkwasser und medizinischer Versorgung haben. Zwar sind mittlerweile viele Hilfsorganisationen auf der Insel Panay aktiv, aber nur wenige kümmern sich um die schwer zugänglichen kleinen Inseln.“
MSF betreibt mobile Kliniken und organisiert die Verteilung von Hilfsgütern mit Booten. Gegenwärtig werden Güter an über 10‘000 Familien verteilt: Zeltplanen, Kochutensilien und Hygienekits, damit die Betroffenen Unterkünfte bauen, Essen zubereiten und sich waschen können. Die mobilen Kliniken in Estancia, Carles und Dionisio haben über 3‘000 medizinische Untersuchungen durchgeführt. Die Teams bieten auch psychologische Sprechstunden für Einzelpersonen und Gruppen an. In Balasan unterstützt MSF das Bezirksspital, dessen Kapazität verdoppelt wurde.