«Bis jetzt war ich ein Geflüchteter, jetzt werde ich auch noch ein Gefangener sein»

Das neue Aufnahmezentrum auf Samos, 5km von der Stadt Vathy entfernt.

Griechenland3 Min.

Seit Monaten haben Patient*innen in unserer Klinik auf Samos Angst, in dem neuen Lager, das am 18. September 2021 eröffnet wurde, eingesperrt zu werden. Sie fühlen sich verlassen und hilflos. Für Menschen, die Folter durchlebt haben, bedeutet das neue, streng kontrollierte Lager nicht nur keine Freiheit zu haben, sondern auch das Wiedererleben vergangener traumatischer Erfahrungen. Die meisten unserer Patient*innen auf Samos haben Symptome von Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Zwischen April und August 2021 hatten schockierende 64 Prozent der neuen Patient*innen, die in unsere Klinik für mentale Gesundheit kamen, Selbstmordgedanken und 14 Prozent waren suizidgefährdet. In folgendem Text berichtet unser Team für mentale Gesundheit vor Ort über den Zustand ihrer Patient*innen.

Unschuldig in Griechenland inhaftiert

Als Psycholog*innen, die mit den Menschen arbeiten, die unter der verschärften europäischen Migrationspolitik leiden, erleben wir täglich die Verschlechterung des psychischen und physischen Wohlbefindens dieser Menschen. Die Eröffnung des neuen Lagers verändert die kollektive Identität der Geflüchteten, ihr Selbstwertgefühl und ihre Würde: Europa bricht diese Menschen.

Was sollen wir einem jungen Mann sagen, der, obwohl er kein Verbrechen begangen hat, in einem gefängnisähnlichen Lager eingesperrt ist? Ein19-jähriger Patient aus Mali, der bereits seit zwei Jahren auf Samos festsitzt, musste vor einigen Jahren seine Heimat verlassen, weil er gefoltert wurde. Er kam nach Europa mit der Hoffnung auf ein besseres Leben und Sicherheit. Doch jetzt sind seine Umstände immer frustrierender und er zweifelt an seiner Existenz. Seine Angst vor dem neuen Lager hat bereits eine Reihe von psycho-emotionalen Reaktionen ausgelöst. Wie lange kann er sich noch vorstellen, all diesen Schmerz und diese Frustration zu ertragen? Als wir ihn fragen, was er sich wünscht, lautet seine Antwort: «Meine Freiheit. Bis jetzt war ich ein Geflüchteter, jetzt werde ich auch noch ein Gefangener sein.»

Die Ungewissheit und die völlige Missachtung des menschlichen Lebens der Asylbewerber*innen werfen ernste Fragen auf, auf die die griechischen und europäischen Behörden keine Antwort haben.

Das Lager bedeutet das «Ende»

Felicite*, seit Februar 2021 psychiatrische Patientin in unserer Klinik, ist eine Überlebende weiblicher Genitalverstümmelung, einer erzwungenen Heirat im Alter von 14 Jahren und jahrelanger extremer sexualisierter und körperlicher Gewalt durch ihren 30 Jahre älteren Ehemann. Sie wurde Opfer von Menschenhandel und befindet sich seit zwei Jahren auf Samos. Ihr Antrag auf Anerkennung des Geflüchtetenstatus wurde bereits zweimal abgelehnt. Das bedeutet, dass sie keinen Zugang zu den grundlegenden Dienstleistungen im Lager hat, z. B. zu Lebensmitteln. Sie wartet bereits seit vier Monaten auf eine neue Entscheidung über ihren Asylantrag. Sie fragt sich zu Recht: «Werde ich verhungern?»

Für die Menschen, die dieser gewalttätigen Migrationspolitik ausgesetzt sind, bedeutet die Eröffnung dieses neuen Lagers das «Ende»: ein Ende des Lebenssinns, ihrer Geduld, jeder rudimentären Freiheit, die sie hatten. Das Ende jeder Möglichkeit, an «normalen» Aktivitäten des Lebens teilzunehmen, wie zum Beispiel mit ihren Kindern am Strand oder auf dem Marktplatz spazieren zu gehen oder in dem Supermarkt in der Stadt einzukaufen.

Mitten im Nirgendwo gelegen und von drei Schichten Zaun und Stacheldraht umgeben, ist das neue Aufnahmezentrum auf Samos für bis zu 3 000 Menschen ausgelegt,  von denen nach Angaben des griechischen Migrationsministers 2 100 einen «kontrollierten Zugang» haben werden und 900 in Haft auf ihre Rückführung in die Türkei warten werden.

Mitten im Nirgendwo gelegen und von drei Schichten Zaun und Stacheldraht umgeben, ist das neue Aufnahmezentrum auf Samos für bis zu 3000 Menschen ausgelegt, von denen nach Angaben des griechischen Migrationsministers 2100 einen «kontrollierten Zugang» haben werden und 900 in Haft auf ihre Rückführung in die Türkei warten werden.

© Evgenia Chorou/MSF

Wir schämen uns für Europa und die Werte, die es vorgibt zu haben, die aber für unsere Patient*innen hier auf Samos nicht zu gelten scheinen. Wie leicht wäre es, diese Situation zu ändern und dem Leben von Hunderten von Menschen, die in Europa internationalen Schutz suchen, einen neuen Sinn zu geben, wenn der politische Wille und die Achtung der Menschenwürde da wären? 

Unsere Forderungen

Wir hören uns jeden Tag die einzigartigen Geschichten der Menschen an. Wir bewundern ihre Widerstandsfähigkeit und wir sind da, um ihnen einen sicheren Ort zu bieten. Aber solange die Fehler und die Politik, die zu diesem Leid geführt haben, wiederholt werden, werden wir nicht in der Lage sein, diesen Menschen wirklich zu helfen. Wir werden einfach hier bleiben und sie weiterhin dabei unterstützen, zu überleben - im wahrsten Sinne des Wortes.

Um unseren Patient*innen wirksam helfen zu können, müssen Europa und Griechenland zunächst für menschenwürdige Alternativen zu den Lagern sorgen, den Zugang zu einem fairen und menschenwürdigen Asylverfahren ermöglichen und eine angemessene - auf die Bedürfnisse von Menschen, die vor Gewalt, Konflikten und Traumata fliehen - zugeschnittene Gesundheitsversorgung sicherstellen.

*Namen wurden geändert

Eva Petraki ist klinische Psychologin und arbeitet außerdem bei einer wissenschaftlichen Organisation, die sich auf die mentale Gesundheit von LGBTQ+-Personen spezialisiert hat.

Betty Siafaka ist Psychologin mit Spezialisierung auf kognitive Verhaltenstherapie und leitet unser Team für mentale Gesundheit auf Samos.

Eva Papaioannou ist Psychologin und hat sich auf systemische Therapie spezialisiert.