Covid-19: Auf die Auswirkungen der Pandemie vorbereitet sein
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Jonathan Whittall ist Leiter der Analyseabteilung von Ärzte ohne Grenzen in Brüssel und teilt seine Meinung zur Corona-Krise.
Wie soll man sich regelmässig die Hände waschen, wenn man weder Seife noch laufendes Wasser hat? Wie kann man in einem Slum oder in einem Flüchtlingslager «social distancing» umsetzen? Wie soll man aufhören, Grenzen zu überqueren, wenn man vor einem Krieg flieht?
Wie sollen Menschen mit bestehenden Erkrankungen zusätzliche Vorsichtsmassnahmen ergreifen, wenn sie sich nicht einmal die nötige Behandlung leisten können oder keinen Zugang dazu haben? Jeder ist in irgendeiner Weise von Covid-19 betroffen – aber einige etwas stärker als andere.
Ungleichheit in unseren Gesundheitssystemen
Denn je mehr sich das Virus ausbreitet, umso sichtbarer wird die Ungleichheit in unseren Gesundheitssystemen. Gewisse Gruppen werden aufgrund ihres rechtlichen Status oder aufgrund anderer Faktoren von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen.
Es wird deutlich, dass zu wenig in eine kostenlose medizinische Versorgung investiert wird, die für alle zugänglich sein sollte. Tatsächlich ist eine qualitative Versorgung nicht immer eine Frage der medizinischen Notwendigkeit, sondern eher eine Frage des Vermögens . Die aktuelle Situation offenbart nicht nur das Scheitern der Gesundheitsbehörden, sondern der Regierungen, Dienstleistungen zu entwickeln und bereitzustellen, die den Bedürfnissen von allen entsprechen. Es zeigt sich umso deutlicher, welch lebensbedrohliche Auswirkungen Bevölkerungsvertreibungen, Gewalt, Armut und Krieg haben.
Am meisten werden Menschen leiden, die schon vorher benachteiligt waren. Menschen, die vor Krieg geflohen sind, die sich wegen der Privatisierung des Gesundheitswesens ihre benötigten Behandlungen nicht leisten konnten oder die Opfer von Sparmassnahmen wurden. Es sind die gleichen Menschen, die sich auch keine Essensvorräte anlegen können, da sie sich schon vorher nicht jeden Tag eine Mahlzeit leisten konnten. Menschen, die für ihre Arbeit nur schlecht bezahlt werden und bei Krankheit keinen Lohn erhalten. Aber auch Menschen, die in Kriegsgebieten festsitzen.
Und wie soll man Patientinnen und Patienten ohne das nötige Material überhaupt behandeln? Viele Gesundheitssysteme, die sich nun auf die Auswirkungen von Covid-19 vorbereiten, standen schon vorher wegen Krieg, Misswirtschaft, ungenügender Mittel, Korruption, Sparmassnahmen oder Sanktionen vor der Zerreissprobe. Sie hatten Mühe, das normale Patientenaufkommen zu bewältigen.
Politische Entscheidungen, die in irgendeiner Weise den Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung begrenzen oder soziale Ausgrenzung und zunehmende Ungleichheit fördern, werden angesichts Covid-19 nun überall spürbar sein. Diese Entscheidungen und Richtlinien sind der Feind unserer kollektiven Gesundheit.
Hilfe für die Schwächsten
Ärzte ohne Grenzen konzentriert sich deshalb im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie auf die Hilfe für die Schwächsten. Wir sind bereits seit dem Auftauchen der ersten Fälle in Hongkong tätig und haben nun auch medizinische Teams in Italien im Einsatz. Wir bauen unsere Hilfe weiterhin aus – so gut es unter diesen Voraussetzungen möglich ist.
Es können jedoch bereits jetzt gewisse Entscheidungen getroffen werden, welche die drohende Katastrophe zumindest etwas abfedern: Die überfüllten Lager auf den griechischen Inseln müssen evakuiert werden. Das bedeutet aber nicht, die Menschen nach Syrien zurückzuschicken, wo nach wie vor Krieg herrscht. Es bedeutet vielmehr, die Menschen in Gemeinschaften zu integrieren, wo es ihnen möglich ist, Massnahmen wie «social distancing» und Selbstisolation umzusetzen.
Materialvorräte müssen länderübergreifend aufgeteilt werden, je nach Umfang des Bedarfs. Das muss damit beginnen, dass die europäischen Staaten ihre Vorräte mit Italien teilen. Dieses Vorgehen muss aber schon bald auf andere betroffene Regionen ausgedehnt werden, deren Fähigkeiten, auf die Krise zu reagieren, begrenzt sind.
Bei Ärzte ohne Grenzen müssen wir Lösungen finden, wie wir weiterhin genügend Personal in unseren laufenden Nothilfe-Projekten einsetzen können. In der Demokratischen Republik Kongo müssen wir weiterhin den grassierenden Masern-Ausbruch bekämpfen. Auch die kriegsgeplagten Gemeinschaften in Kamerun oder der Zentralafrikanischen Republik zählen weiterhin auf unsere Hilfe. Dies sind nur einige Beispiele von Bevölkerungsgruppen, die wir jetzt nicht im Stich lassen dürfen. Für sie ist Covid-19 ein zusätzliches Übel in ihrem täglichen Überlebenskampf.
Pandemie legt unsere kollektive Verwundbarkeit offen
Diese Pandemie legt unsere kollektive Verwundbarkeit offen. Die Machtlosigkeit, die viele von uns jetzt verspüren, das bröckelnde Sicherheitsgefühl, die ungewisse Zukunft – genau solche Ängste und Sorgen kennen viele schon lange, die vom System ausgeschlossen oder vernachlässigt wurden.
Ich hoffe, dass Covid-19 uns nicht nur das Händewaschen lehrt, sondern auch den Regierungen begreiflich macht, dass Gesundheitsversorgung allen zusteht.
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