«Lieber vorbeugen als heilen»: Mit einem lokalen Rezept gegen Mangelernährung bei Kindern in Nigeria
© Georg Gassauer/MSF
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Seit April 2024 verzeichnen die Gesundheitseinrichtungen im Nordosten und Nordwesten von Nigeria, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, einen beispiellosen Anstieg von Kindern, die mit akuter Mangelernährung eingeliefert werden. Unsere Teams behandeln immer mehr junge Patient:innen. Gleichzeitig versuchen sie, lokale Lösungen für dieses Problem zu finden. So sind sie zum Beispiel im Bundesstaat Kebbi unterwegs, um das «Tom Brown»-Rezept zu verteilen.
Vier Tage die Woche sind Maryam Muhammad, Verantwortliche für Gesundheitsförderung, und ihr Team in Kebbi unterwegs, den Kofferraum vollgepackt mit Tischen, Töpfen, Tassen, Löffeln und Plastikflaschen mit Sojabohnen, Sorghum, Erdnüssen, Moringablättern und Palmöl.
«Das ist alles, was wir für die Vorführung brauchen», sagt sie auf dem Weg nach Maishaika, einer Stadt, die etwa 40 Kilometer vom therapeutischen Ernährungszentrum von Ärzte ohne Grenzen entfernt liegt. «Das, und ein paar Lieder, damit sich auch alle das Rezept merken können».
Nach 35 Minuten Fahrt hält der Jeep in Maishaika an. Maryam und ihre Kolleg:innen begrüssen den Dorfältesten und versichern sich, dass er der Vorführung zustimmt.
Einige Minuten später setzt sich das Team in Bewegung: Tische, Stühle und Zutaten werden ausgepackt und aufgestellt. Freiwillige gehen von Haus zu Haus, um die Bewohner:innen herbeizurufen. Im Handumdrehen herrscht reges Treiben auf dem kleinen Dorfplatz: Rund hundert Frauen in bunten Kopftüchern drängen sich auf den Stühlen und dem Boden, um zu sehen, was passiert.
Sie bittet eine der Frauen, ihr bei der Zubereitung des Tom Brown zu helfen. Das Verhältnis des Rezepts ist einfach: Sechs Teile Sorghum oder Hirse, drei Teile Sojabohnen und ein Teil Erdnüsse. Die Zutaten werden eingeweicht, gewaschen, getrocknet, geröstet und vermischt, damit sie dann zu einem Pulver zerstossen werden können. Dieses Pulver wird anschliessend mit sauberem Wasser gemischt und in kochendes Wasser gegeben. Das Ganze wird einige Minuten über dem Feuer gekocht.
Je nach Verfügbarkeit auf dem Markt, persönlichen Vorlieben und den Mitteln der Familie kann man Palmöl, Moringablätter, Kuhmilch oder Fleisch dazugeben, damit das Kind mehr Energie und Nährstoffe erhält. Doch die galoppierende Inflation und die immer weiter ansteigenden Lebensmittelpreise machen es den Familien nicht leicht: Zutaten hinzuzufügen ist ein Luxus, den sich viele nicht leisten können.
Zwischen Januar und Mai 2024 organisierten Maryam und ihr Team 554 Vorführungen in der Region Kebbi. Mehr als 13 300 Personen nahmen teil – davon waren 1461 Männer.
Solche kulinarischen Vorführungen sind zentral, weil die Menschen verstehen, dass sie ihre Kinder selbst vor akuter Mangelernährung schützen können, statt sie zur Behandlung in ein Zentrum bringen zu müssen. Vorbeugen ist immer besser als heilen. Ärzte ohne Grenzen wird nicht immer hier sein. Zusätzlich zu den Behandlungen brauchen wir daher nachhaltige Massnahmen gegen Mangelernährung. Die Menschen, die wir heute schulen, werden das Rezept an andere weitergeben.
Dringend weitere Massnahmen nötig, um Mangelernährung wirksam zu bekämpfen
Doch diese Bemühungen, so wichtig sie auch sind, bleiben ein Tropfen auf den heissen Stein. In Kebbi und in anderen Bundesstaaten im Norden von Nigeria sind die Bedürfnisse riesig. Die Behörden und ihre Partner müssen dringend neue Massnahmen ergreifen, um die Mangelernährung erfolgreich zu bekämpfen.
Die Förderung einer geeigneten Ernährung für Säuglinge ist genauso wesentlich wie ein verbesserter Zugang zu Gesundheitsversorgung und eine höhere Nahrungssicherheit. Gemäss jüngsten Statistiken[1] litten im Nordosten und Nordwesten von Nigeria zwischen Mai 2023 und April 2024 fast 4,4 Millionen Kinder unter fünf Jahren an akuter Mangelernährung.
© Georg Gassauer/MSF