Den Fluten entgangen, dem Virus entwischt

Stefanie, sage-femme MSF à bord de l'Ocean Viking donne une formation.

Deutschland6 Min.

Stefanie, Hebamme bei Ärzte ohne Grenzen, und Abdoulaye (Name geändert) aus Gambia begegneten sich zweimal innerhalb weniger Monate in aussergewöhnlichen Situationen: zunächst in Seenot auf dem Mittelmeer, dann in Coronavirus-Quarantäne in Ostdeutschland. Die Geschichte eines Wiedersehens.

Den Tag, an dem Abdoulaye zum ersten Mal mit Stefanie zusammentraf, hätte er beinahe nicht überlebt. Es war der Morgen des 17. September 2019, er befand sich mit 60 Menschen auf einem blauen Schlauchboot vor der libyschen Küste. Nach etwa neun Stunden auf See drang Wasser ins Boot ein.

Seenot vor der libyschen Küste

«Die Situation wurde immer schlimmer. Unsere Kleider waren schon komplett mit Meerwasser durchtränkt. Es ging uns schlecht. Wir weinten und schrien. Niemand half uns. Wir sahen drei Schiffe, aber keines hielt an. Alle fuhren davon», erinnert sich der grosse junge Mann aus Gambia. «Als wir dann die Ocean Viking sahen, konnten wir es erst nicht glauben. Ihr Schnellboot kam bei uns an und sie sagten uns: Macht den Motor aus! Setzt euch hin! Aber wir konnten unsere Freude nicht unterdrücken. Sie sagten: Beruhigt euch! Beruhigt euch! Aber wir konnten nicht…»

Stefanie, die als Leiterin des medizinischen Teams an Bord der Ocean Viking die Geretteten an Bord empfing, erinnert sich noch gut an Abdoulaye und die Erleichterung der Menschen. Sie begriffen, dass sie dem Konflikt in Libyen, der Ausbeutung und Misshandlung dort endgültig entkommen waren. Es war die dritte Rettungsaktion der Ocean Viking-Crew in dieser Woche, eine weitere sollte noch folgen. Acht Tage würde es noch dauern, bis das Rettungsschiff den Hafen von Messina anlaufen durfte. In dieser Zeit begegneten sich Abdoulaye und Stefanie jeden Tag auf Deck: «Er hat immer seine Hilfe angeboten, zum Beispiel um Essen auszuteilen oder um zu übersetzen», erzählt Stefanie. «Er war immer ein ruhender Pol unter den Geretteten. Als es einmal etwas Unruhe und Diskussionen gab, hat er sich in seiner ganzen Grösse hingestellt und gesagt: ‚Hey Jungs, hört mal zu, die Crew hat uns etwas zu erzählen!‘ Er hat auf eine ganz nette Art versucht, die Leute zu beruhigen.»

Coronavirus-Quarantäne in Ostdeutschland

Sieben Monate später, mitten in der Corona-Krise, ist Stefanie erneut im Einsatz für Ärzte ohne Grenzen, diesmal in Deutschland. Die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber des Landes Sachsen-Anhalt in Halberstadt steht unter Quarantäne. Dutzende Asylsuchende sind dort positiv getestet worden. Unter den verbliebenen Bewohnern gibt es Angst und Unsicherheit, die zwischenzeitlich auch zu Protesten geführt hatten. Als Teil eines vierköpfigen Teams soll Stefanie die Behörden und die vor Ort tätigen Organisationen bei der Gesundheitsaufklärung und der psychologischen Betreuung unterstützen. 

«Am ersten Tag bin ich mit einem Kollegen den Gang in einem der Häuser runtergelaufen», erinnert sie sich. «Ich habe gesehen, dass in einer Gruppe von Männern einer stand, der alle anderen um einen Kopf überragte. Wir fingen an, sie auf das Coronavirus anzusprechen, und sofort ist eine Diskussion ausgebrochen. Währenddessen hat er mich immer so besonders angeschaut – und ich habe mir gedacht: Den kenne ich doch! Kann das sein? Als dann alle Fragen beantwortet waren, stand er neben mir und ich sagte: Hey, wir kennen uns doch! Und er sagte nur: ‚Ocean Viking, oder?‘».

Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt mit Italien, Spanien und Frankreich einer der Hotspots der Coronavirus-Pandemie in Europa. Überall im Land gelten Kontaktbeschränkungen, besonders Altersheime und Spitäler unterliegen strengen Regeln. Zu den gefährdeten Menschen gehören auch Asylsuchende in Gemeinschaftsunterkünften, in denen sie sich nur unzureichend vor der Ansteckung durch Mitbewohner schützen können. In der Erstaufnahmestelle in Halberstadt hatten sich mehr als 100 von anfangs mehr als 800 Bewohnerinnen und Bewohnern infiziert. Die positiv Getesteten wurden in anderen Einrichtungen isoliert, besonders gefährdete ältere oder kranke Asylsuchende konnten die Unterkunft ebenfalls verlassen. Rund 500 kamen in Quarantäne. Bei den von den zuständigen Gesundheitsbehörden angeordneten Reihentestungen bei allen Bewohnern wurden weitere Coronavirus-Infektionen nachgewiesen. Um diese Situation zu meistern, hatten die Behörden von Sachsen-Anhalt auch mit Ärzte ohne Grenzen einen dreiwöchigen Einsatz vereinbart.

Abdoulaye in der Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt, Ostdeutschland.

Abdoulaye in der Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt, Ostdeutschland.

© Nicole Langer/MSF

Unverständnis und Angst

«Das grösste Problem war, dass viele nicht verstanden hatten, worum es beim Coronavirus genau geht. Es gab einen Mangel an Informationen in der jeweiligen Sprache und zu wenige Möglichkeiten nachzufragen und alles nochmal verständlich erklärt zu bekommen», berichtet Stefanie. «Das hat dazu geführt, dass einige die Hygieneregeln nicht verstanden und nicht beachtet haben – sie haben keine Masken aufgesetzt, sie haben nicht auf Abstand geachtet. Manche haben aus dem Internet oder vom Hörensagen wilde Theorien aufgeschnappt. Das andere Extrem waren Bewohner, die so grosse Angst hatten, dass sie sich überhaupt nicht mehr aus ihren Zimmern heraustrauten. Sie hatten Angst, sich zu infizieren. Manche dachten, sie müssten dann sterben. Es gab zwei Extreme: Unverständnis und Angst.»

Anfangs hatte ich viel Angst. Sechs meiner engen Freunde wurden positiv getestet.

Abdoulaye

«Anfangs hatte ich viel Angst», erzählt Abdoulaye. «Sechs meiner engen Freunde wurden positiv getestet. Wir hatten alles zusammen gemacht, und jetzt waren sie in eine andere Stadt gebracht worden. Damals haben wir gehört, dass man sich angeblich nicht infiziert, wenn man heisses Wasser mit Zitrone trinkt. So habe ich viel heisses Wasser mit Zitrone getrunken.» Das änderte sich, je länger die Quarantäne dauerte: «Später hatte ich aber Zweifel, ob es das Coronavirus wirklich in dieser Unterkunft gab, nach allem, was ich in verschiedenen Medien über die Symptome gelesen hatte. Aber dann hatte ich ein Gespräch mit Stefanie und ihren Kollegen. Sie erklärten mir alles, und ich dachte: Wow, das ist wirklich gefährlich!»

«Die Kinder haben sofort ihre Gesichtsmasken geholt»

Abdoulaye und sieben weitere Bewohner erklärten sich sofort bereit, in einer Art Demonstrationstheater zu Musik die wichtigsten Corona-Verhaltensregeln für die übrigen Bewohner vorzuführen: Hände waschen, Abstand halten, Niesen in die Armbeuge, Masken richtig tragen etc. 

«Den Beteiligten hat das richtig Spass gemacht», erzählt Stefanie. «Besonders für die alleinstehenden Männer gab es während der Quarantäne ja überhaupt nichts zu tun. Sie konnten nicht rausgehen, die Gemeinschaftsräume waren geschlossen, sie konnten ihre Freunde nicht treffen und hatten auch nur eingeschränkt Zugang zum Internet. Sie konnten nicht mal selbst kochen. Auch den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern hat die Abwechslung gefallen. Die Kinder waren total begeistert – sie haben sich in zwei Meter Abstand hingestellt und mitgetanzt. Sie haben auch sofort ihre Gesichtsmasken geholt und sie aufgesetzt. Vor allem die afrikanischen Frauen fanden es super, dass einfach mal ein bisschen Musik lief. Selbst die Mitarbeiter im Bürogebäude nebenan haben alle gleich die Fenster aufgemacht und zugeschaut.»

«Besseres Verständnis des Coronavirus»

Nach drei Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung und zahlreichen Gesprächen mit Bewohnern und Mitarbeitenden hinterlässt das Team von Ärzte ohne Grenzen konkrete Vorschläge für eine bessere Kommunikation, ein verbessertes Hygienemanagement und für die Ausweitung der psychologischen Betreuung bestimmter Personengruppen. Aus Sicht von Abdoulaye hat sich das Verständnis der Bewohner vom Coronavirus deutlich verbessert: «Sie haben alle etwas verstanden, auch wenn wir unterschiedliche Sprachen sprechen. Nach unserer Vorführung haben sie zum Beispiel öfter eine Gesichtsmaske getragen, und in der Essenschlange wurden eineinhalb Meter Abstand gehalten. Es hat sich verbessert.»

Kurz darauf erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner endlich ihre Bewegungsfreiheit wieder. «Die Quarantäne wurde an einem Sonntag um Mitternacht aufgehoben», erzählt Abdoulaye. «Als das Tor geöffnet wurde, sind wir mitten in der Nacht hinausgelaufen – nur ein paar Meter, dann kamen wir wieder zurück. Wir waren so begeistert, dass wir nach einem Monat wieder rausdurften und unsere Freiheit wiederhatten! Natürlich müssen wir draussen Gesichtsbedeckung tragen und Abstand halten und so weiter. Das erste, was ich am nächsten Tag gemacht habe: Ich bin einkaufen gegangen – Kleidung und Essen: Reis, Hühnchen und scharfe Gewürze.»