Der bittere Nachgeschmack von Mossul
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In einem ursprünglich auf Al Arabiya erschienenen, englischsprachigen Artikel äussern sich Isabelle Defourny und Christine Jamet – beide operative Leiterinnen bei MSF – zu den operativen Entscheiden, den Schwierigkeiten und den Fragen, welche die Positionierung der NGO während der Schlacht um Mossul zwischen 2016 und 2017 prägten.
In einem Artikel, der am 17. Januar in der britischen Tageszeitung Independent erschienen war, hinterfragt der Journalist Robert Fisk den Einsatz der Hilfsorganisationen während der Schlacht um Mossul. Insbesondere geht es um die Rolle der medizinischen Akteure, die an der Seite der internationalen Koalition in den Konflikt «hineingeraten» waren und sich voll und ganz deren militärisch-strategischen Zielen angeschlossen hatten. Fisk zitiert Jonathan Whittall, ein Mitarbeiter von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF), der im Juni in einem Blogbeitrag geschrieben hatte, dass die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Angehörigen des Militärs eine Bedrohung für den Anspruch auf Neutralität und Unabhängigkeit der humanitären Hilfe darstellte. Organisationen wie die unsere würden Gefahr laufen, mit denjenigen in einen Topf geworfen zu werden, die im Fahrwasser der Koalition arbeiteten.
Wir glauben, dass diese Sichtweise den Blick auf die wahren Probleme, mit denen die NGOs in Mossul konfrontiert waren, verschleiert.
Während der Offensive zur Rückeroberung Mossuls vom IS (Islamischer Staat) hatte MSF in der Tat kein Monopol für die medizinische Hilfe. Der Ablauf der medizinischen Betreuung der Verletzten wurde einerseits vom Militär und andererseits von der irakischen Regierung, den internationalen Geldgebern und der UNO vorgegeben. Folgendes System der medizinischen Triage wurde eingeführt: Evakuierung der Verletzten von der Front durch die irakischen Streitkräfte, anschliessend Stabilisierung und Überweisung an weitere medizinische Einrichtungen. Die Weltgesundheitsorganisation verpflichtete Partner für die Ausführung dieser Massnahmen, darunter private medizinische Organisationen, die bereit waren, Hand in Hand mit dem militärischen Personal zu arbeiten, um die Verletzen zu evakuieren und zu stabilisieren.
MSF war kein solcher Ausführungspartner. Wir platzierten unsere Teams und unsere medizinischen Einrichtungen nicht in unmittelbare Nähe zur Front – nicht aus Angst, mit der Koalition in Verbindung gebracht zu werden, sondern wegen der offensichtlichen Gefahren: Minen, Drohnenangriffe, Bombardierungen, Scharfschützen und mögliche chemische Angriffe. All diese konkreten Bedrohungen stellten eine Gefahr für das Leben von zehntausenden Zivilisten und humanitären Helfern dar.
Da es kein funktionierendes Spital in Mossul mehr gab, entschieden wir uns, einen unabhängigen Gesundheitsdienst für Vertriebene und für die ansässige Bevölkerung anzubieten, und zwar ausserhalb der Reichweite der Front, aber noch nah genug, um schnell handeln zu können.
Einige Wochen nach Beginn der Offensive auf West-Mossul waren die MSF-Teams einsatzbereit, um den Zivilisten zu helfen, denen es gelungen war, den Scharfschützen des IS, der Bodenoffensive der irakischen Armee und den Bombardierungen durch die Koalition zu entkommen. Diese Zivilisten kamen von den Standorten zur Stabilisierung der Verletzten, die von der irakischen Regierung und der UNO koordiniert wurden. Unsere Aufnahmekapazitäten waren schnell erschöpft und die postoperative Betreuung ungenügend. Trotz der Präsenz zahlreicher medizinischer Akteure überlebten viele Patienten nicht. Viele der Überlebenden, die aufgrund ihrer Erlebnisse unter der Herrschaft des IS und der darauffolgenden Belagerung Mossuls traumatisiert waren, sorgten sich um ihre Zukunft und es herrschte eine Atmosphäre allgemeiner Verdächtigungen, Denunziationen und willkürlicher Verhaftungen.
Wie in allen Konflikten verhandelte MSF mit den Streitkräften, die das Gebiet kontrollierten, blieb aber unabhängig von der medizinischen Hilfskette, welche die UNO eingerichtet hatte. In Mossul fanden diese Gespräche nur mit einer der Konfliktparteien statt, weil unsere Verhandlungsversuche mit dem IS bereits lange zuvor gescheitert waren. Unser Zugang zum Gebiet und die Sicherheit unserer Teams beruhte also auf unseren Verhandlungen mit der irakischen Armee und ihren Verbündeten.
Wir wurden zu machtlosen Zuschauern der Ereignisse und zu Zeugen, wie die Bevölkerung für die Rückeroberung der Stadt geopfert wurde.
Diese Umstände stellten eine medizinische Betreuung auf der Grundlage einer unabhängigen Beurteilung des Hilfsbedarfs durch MSF immer wieder auf die Probe.
Eine der grössten Herausforderungen, mit der wir konfrontiert wurden, war die Betreuung inhaftierter Patienten im Spital, das wir in Qayara, im Süden Mossuls, eröffnet hatten. Viele dieser Häftlinge, die von verschiedenen irakischen Behörden aus den Gefängnissen zu uns gebracht wurden, wiesen eindeutige Zeichen von Misshandlungen auf; einige befanden sich in sehr schlechtem Zustand.
Unsere Teams kannten weder die Gründe, die zu ihrer Verhaftung geführt hatten, noch wussten sie, unter welchen Bedingungen die Häftlinge festgehalten wurden oder warum entschieden worden war, sie zu uns zu bringen. Auch war uns nicht bekannt, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie von den irakischen Behörden in die Gefängnisse zurückgebracht wurden. Die Hilfe, die wir dieser Gruppe von Personen geben konnten, war rein medizinischer Art. Die Tatsache jedoch, nichts über die Geschichte eines Patienten zu wissen, wirft unweigerlich Fragen auf und sorgt bei einem humanitären Arzt für Unbehagen.
Die letzte Phase der Offensive auf die Altstadt von Mossul stellte uns noch vor eine andere Problematik. Die Mitglieder des IS hatten sich in einem kleinen Teil der Stadt verschanzt, der noch von zahlreichen Zivilisten bewohnt war. Nichtsdestotrotz wurde die Bombardierung dieses Stadtteils erlaubt. Die Überlebenden wiesen Verletzungen von Schrapnellen, Explosionen und Schusswaffen auf, aber auch Verbrennungen oder Brüche, verursacht durch die Zerstörung der Gebäude, was von der Brutalität dieses letzten Sturmangriffs zeugte. Tausende Zivilisten wurden so während der Belagerung der Altstadt bewusst geopfert.
Die plötzliche Präsenz neuer «humanitärer» Akteure an der Front, wie sie von Robert Fisk beschrieben wird, wirft zweifellos zahlreiche Fragen auf: wer sind diese Organisationen, wie gehen sie vor und welche Kriterien bestimmen die Triage der Patienten? Aber das eigentliche Problem in Mossul war nicht die Gefahr, die diese Organisationen für eine «ideale» humanitäre Hilfe darstellen. Das wirklich Tragische war, dass unsere Prinzipien der Neutralität und Unabhängigkeit uns nicht dabei geholfen hatten, zu den Verletzten zu gelangen, die in der Stadt gefangen waren. Wir wurden zu machtlosen Zuschauern der Ereignisse und zu Zeugen, wie die Bevölkerung für die Rückeroberung der Stadt geopfert wurde.
MSF hat sich den Zielen der Koalition nicht angeschlossen und war kein Partner der UNO. Indem wir die Zivilisten behandelten, denen die Flucht gelungen war, wurden wir dennoch Teil der Taktik des «damage control», welche die Koalition gewählt hatte. Das ist der bittere Nachgeschmack, den wir von der Schlacht um Mossul behalten.
Isabelle Defourny, operative Leiterin MSF, Paris, und Christine Jamet, operative Leiterin MSF, Genf.
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Al Arabiya publiziert.