«Die Menschen hier sind traurig» – Ängste und Hoffnungen der Rohingya
© Scott Hamilton/MSF
Myanmar9 Min.
Vor zwei Jahren gelangte Myanmars Bundestaat Rakhine in die Schlagzeilen: 745 000 Angehörige der Minderheit der Rohingya wurden mit extremer Gewalt vertrieben und flohen nach Bangladesch. In den dortigen Flüchtlingslagern leben sie in völliger Abhängigkeit von humanitärer Hilfe. Doch wie ist die Situation der noch in Myanmar lebenden Rohingya?
Die Lage der mehr als 550 000 noch im myanmarischen Bundesstaat Rakhine lebenden Angehörigen dieser Minderheit sehr trostlos. Seit einer Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts 1982 ist die ethnische und religiöse Minderheit de facto staatenlos und zunehmender Diskriminierung ausgesetzt. Was es bedeutet, als Rohingya zu leben, erzählen zwei Angehörige der Minderheit: Suleiman, der als Wachmann in einer unserer Kliniken in Myanmar arbeitet, und Metun, der nach Bangladesch geflohen ist.
Suleiman aus Myanmar: «Wir wollen einfach nur hier leben und frei sein»
Die Rohingya müssen mit rechtlichen Einschränkungen in den Bereichen Bildung, Eheschliessung und Familienplanung leben. Sie dürfen ihren Wohnort nicht frei wählen und haben nur begrenzten Zugang zur nationalen Gesundheitsversorgung. Die Geschichte der Diskriminierung von Angehörigen der Rohingya-Minderheit ist lang. Vor dem jüngsten Ausbruch von Gewalt 2017 war es beispielsweise 2012 in einigen Gemeinden im Bundesstaat Rakhine zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rohingya und Einheimischen gekommen. Seither leben rund 128 000 Rohingya- und Kaman-Muslime in überfüllten Vertriebenenlagern. Sie haben kein Recht auf Freizügigkeit und keinen Zugang zum Arbeitsmarkt.
«Mit 15 Jahren musste ich die Schule beenden»
Suleiman ging in Sittwe, der Hauptstadt des Bundestaats Rakhine, zur Schule. Sittwe gehört zu den Schauplätzen von Kämpfen zwischen dem Militär Myanmars und der «Arkan Army», einer bewaffneten ethnischen Gruppe aus Rakhine. Suleiman erzählt: «Ich bin in Nget Chaung zur Welt gekommen und meine ganze Familie lebt hier. Meine Frau und ich haben acht Kinder. Ärzte ohne Grenzen kam 2012 direkt nach der Krise nach Nget Chaung. Nur sieben Tage nachdem wir angegriffen wurden, haben sie begonnen, hier zu arbeiten. Als Kind bin ich in die Schule in Sittwe gegangen. Aber mit 15 Jahren musste ich die Schule beenden, weil wir kein Geld mehr dafür hatten. Ich kam heim und lebte schliesslich in der Moschee. Ich fing an, als Lehrer zu arbeiten und gab Unterricht in Englisch und Burmesisch für Kinder und Erwachsene, die unsere Moschee besuchten.»
«Mein Haus war niedergebrannt»
«Als 2012 die Krise begann, arbeitete ich gerade in einem anderen Dorf», erzählt Suleiman weiter. «Als ich nach Hause kam, war die Lage angespannt. Einmal wachten wir mitten in der Nacht auf. Es war ungefähr 2 Uhr morgens. Draussen hörten wir Menschen. Wir zogen uns leise an und schlichen nach draussen. Es war dunkel. Wir konnten kaum etwas sehen. Aber da waren viele fremde Leute. Da wusste ich, dass wir wegmüssen. Wir haben Deckung in Hauseingängen gesucht und uns hinter Mauern versteckt, und dann sind wir losgerannt. Wir sind lange gelaufen, bevor wir uns irgendwo versteckten. Als wir uns zum Dorf umdrehten, sahen wir grosse Feuer. Wir blieben die Nacht über in unserem Versteck. Am nächsten Morgen sind wir zurückgegangen. Als wir ankamen, waren viele Häuser zerstört – sie waren niedergebrannt, auch mein Haus und alle Kühe und Ziegen waren weg. Ein Polizist kam und machte sich ein Bild von der Lage und sah die Zerstörung. Dann ging er einfach wieder.»
«Wir haben lange in Zelten gelebt. Es dauerte fast zwei Jahre, bis alles wiederaufgebaut war. Irgendwann kamen Soldaten. Sie sagten uns, dass wir weiter hier leben, aber nicht woandershin dürfen. Einige Soldaten blieben lange hier und kontrollierten die Gegend. Mehr als ein Jahr danach richtete die Polizei einen Checkpoint ein.»
«Wir möchten unser Leben selbst in die Hand nehmen und frei sein»
«Es gibt hier keine richtigen Möglichkeiten zu arbeiten. Man kann auch kaum Fisch fangen. Es wird wenig gehandelt und wir können nicht das kaufen, was wir wollen. Fisch und Garnelen, das ist alles, was man kaufen kann. Nur manchmal kommen Leute aus anderen Orten und verkaufen uns andere Nahrungsmittel. Die Menschen hier sind traurig. Sie sind unzufrieden, weil sie nirgendwo hingehen und nichts tun können. Aber niemand hört uns zu. Der Kummer frisst sich in uns hinein. Nicht einmal in den nächsten Ort dürfen wir gehen. Das staut sich in den Menschen an. Hier gibt es auch ein Lager, nicht weit von unserem Ort. Die Menschen leben auf engstem Raum, es gibt zu wenig Platz. Dort leben viele Rohingya. Weil die Menschen aus so vielen unterschiedlichen Gegenden kommen, gibt es Spannungen. Manchmal gibt es Auseinandersetzungen und sogar sexuelle Gewalt zwischen Gruppen.»
«Die Rohingya sind genau wie andere Minderheiten in Myanmar auch – wir wollen einfach nur hier leben und frei sein. Wir möchten unser Leben selbst in die Hand nehmen und nachts ohne Angst schlafen. Der Longyi ist ein Symbol von Myanmar und alle Ethnien in Myanmar ausser uns haben ihr eigenes Muster. Wir tragen den Longyi auch, aber ohne Muster. Wir haben gar nichts. Ich wünschte, die Leute würden uns sehen – so wie wir sind. Ich möchte, dass die Leute wissen, wer die Rohingya sind.»
Metun aus Bangladesch: «Das kollektive Schicksal der Rohingya liegt in unseren Händen»
Metun (Name geändert) lebt, seit er aus Myanmar floh, im riesigen Lager Kutupalong in der Region Cox’s Bazar. Das Camp ist eines der grössten Flüchtlingslager der Welt. Vor seiner Flucht arbeitete er in Bangladesch für Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Heute engagiert er sich in den sich ausbreitenden Geflüchtetencamps in Cox’s Bazar freiwillig für NGOs. In Kutupalong haben die Menschen Angst davor, dass sie eines Tages dazu gezwungen werden könnten, nach Myanmar zurückzukehren.
«Ich bin seit dem 11. September 2017 in Bangladesch – ich erinnere mich an das exakte Datum», erzählt Metun. «Ich bin mit meiner Frau und meinen vier Kindern geflohen. In Rakhine wurden wir immer wieder bedroht. Im Vergleich zu Myanmar fühlt sich Bangladesch nach wie vor wie ein Paradies an, aber die Lebensbedingungen hier sind unmenschlich. Man wohnt in einem kleinen Raum, teilt sich die Toiletten und lebt unter einer Plastikfolie ohne Ventilator. Wir dürfen uns nicht frei bewegen und auch nicht wie die Menschen aus Bangladesch arbeiten gehen.
«Wenn dich jemand nicht mag, kann er eine Gang beauftragen, dich zu töten»
«Generell sind die Camps nicht mehr so sicher, wie sie einmal waren», erzählt Metun weiter. «Weil es keine Möglichkeit gibt, Geld zu verdienen, sich fortzubilden oder zu arbeiten, wenden sich die Leute illegalen Aktivitäten zu, um über die Runden zu kommen. Es gibt extremistische Gruppen, die die Menschen kidnappen, entführen und ausrauben. Unverheiratete Frauen und Kindern werden zum Ziel von Menschenhändlern. Wenn dich jemand nicht mag, kann er eine Gang beauftragen, dich zu töten. Ladenbesitzer*innen und Menschen, die sich bei NGOs engagieren, können ein wenig Geld verdienen. Das macht sie zu Zielen.»
«Im Moment sind die Leute sehr besorgt über das Gerücht, dass ein Zaun rund um das Camp gebaut werden soll. Wenn das passiert, werden wir uns nicht mehr frei von Block zu Block bewegen können. Du darfst dich dann nur noch zwischen den Blocks hin und her bewegen, wen du einen Ausweis vorzeigen kannst. Das wird den Menschen psychisch nicht guttun. Kämpfe und Unruhen in den Camps wird das nur verstärken.
«Wir hoffen, dass die internationale Gemeinschaft Interesse behält»
Wenn es darum geht, nach Myanmar zurückzukehren, haben die Menschen Angst davor, dass es so wird wie 1992, als die Rohingya zurückgezwungen wurden. Wir wissen zwar, dass die Situation nicht die gleiche ist wie 1992, dennoch machen sich die Menschen Sorgen. Was sollen wir dann tun? Vor ein paar Tagen hatte ich Kontakt mit Leuten, die noch in Rakhine leben. Sie verfolgen sehr genau, was hier in Bangladesch passiert. Das kollektive Schicksal der Rohingya liege in unserer Hand, sagen sie. Wenn wir hier für Gerechtigkeit sorgen können, bekommen sie auch dort mehr Rechte. Aber wenn wir wie damals zurückkommen, sind wir alle in Gefahr. Es war hart, das zu hören. Wir fühlen uns nicht sicher. Wir hoffen, dass die bangladeschische Regierung uns nicht zurückzwingt.»
«In vielen Länder wusste man gar nichts über die Rohingya, bevor es die grosse Fluchtbewegung gab. Die Menschen wussten vor August 2017 nichts über die Gewalt, die uns angetan wurde. In Myanmar durften wir keine Smartphones benutzen, deshalb konnten wir der Welt auch nichts über unsere Situation berichten oder mit ihr kommunizieren. Vergangenes Jahr zu dieser Zeit haben viele NGOs und Medien über unser Schicksal berichtet. Jetzt hat sich die Aufmerksamkeit gelegt, und nächstes Jahr wird es wahrscheinlich noch weniger sein. Wenn es so weitergeht, wird die bangladeschische Regierung in ein paar Jahren gelangweilt sein und uns zurückschicken. Wir hoffen weiterhin, dass die internationale Gemeinschaft ihr Interesse beibehält. Wir wissen, dass es Zeit braucht, um diese Probleme zu lösen.»
«Letztendlich fordern wir Gerechtigkeit»
«Die Rohingya sind eine Ethnie, aber in Myanmar nennen sie uns Kala oder illegale Einwanderer oder Bengali, als würden wir aus Bangladesch kommen. Die myanmarische Regierung hat die Menschen angewiesen, eine «National Verification Card» (NVC) zu beantragen. Nachdem man diese Karte sechs Monate lang hatte, wird man überprüft, um zu bestimmen, ob man eine Staatsbürgerschaft bekommt oder nicht. Die erste Frage auf dem Formular ist: «Wann bist du aus Bangladesch gekommen?», gefolgt von «Warum bist du hier?» und «Wer war der Vorsitzende in deinem Dorf in Bangladesch?». Dabei stecken sie uns automatisch in eine Schublade. Deshalb wollen die Menschen nicht zurück. Wenn wir zurückgehen, werden wir gezwungen, durch den NVC-Prozess zu gehen und uns für eine Staatsbürgerschaft zu bewerben. Das ist, als würde man sich selbst anzünden. Man muss Ausweise von beiden Seiten der Familie von drei Generationen vorzeigen – wie soll man für drei Generationen die Ausweise aufbewahren? Insbesondere, weil die myanmarische Regierung in der Vergangenheit viele Dokumente zurückverlangt hat. Wir wurden ohne jegliche Möglichkeit, uns auszuweisen, zurückgelassen. Als sie unsere Dörfer verbrannten, wurde alles, was wir noch an Dokumenten hatten, mitverbrannt.»
«Je länge wir hierbleiben, desto mehr Kinder werden verloren sein»
«Ich habe nicht vor, in den nächsten fünf Jahren zurückzugehen, deshalb bereite ich mich darauf vor, länger hierzubleiben. Wenn wir für eine lange Zeit hierbleiben, möchte ich, dass den Rohingyas Bildung, Sicherheit, Geflüchtetenstatus, eine bessere Gesundheitsversorgung und Arbeit zugestanden wird. Letztendlich fordern wir Gerechtigkeit. Wir wollen das Recht auf Staatsbürgerschaft, freie Bewegung, Bildung, Gesundheitsvorsorge, Religionsfreiheit - so wie andere Gruppen auch in Myanmar. Wir zerstören die Generation unserer Kinder. Kinder sollten in die Schule gehen, aber es gibt keine Schulen für sie. Ich schaue meine und andere Kinder an – die zukünftige Generation. Wenn sie sechs oder sieben Jahre hierbleiben, wird es unmöglich sein, dass sie zurück in die Schule gehen. Je länger wir hierbleiben, desto mehr Kinder werden verloren sein.»
Ärzte ohne Grenzen arbeitet teilweise seit Jahrzehnten in Regionen, in denen Angehörige der Rohingya Hilfe benötigen. In Myanmar im Bundestaat Rakhine beispielsweise seit 1994. Aktuell betreiben wir dort u. a. mobile Kliniken. In Bangladesch behandeln unsere Teams Monat für Monat Zehntausende Patient*innen. Zwischen August 2017 und Juni 2019 haben wir dort mehr als 1,3 Millionen Konsultationen abgehalten. In Malaysia helfen wir u.a. mit mobilen Kliniken seit 2015 im Bundestaat Penang Rohingya und anderen Geflüchteten.
© Scott Hamilton/MSF