Gewalt, Folter und Tod mitfinanzieren? Das geht anders.
© Filippo Taddei/MSF
Schweiz3 Min.
Plädoyer für eine menschenwürdigere Migrationspolitik. Soll der finanzielle Beitrag an Frontex aufgestockt werden? Darüber stimmt die Schweiz am 15. Mai ab. Aus humanitärer Sicht gibt es zurzeit jedoch eine viel dringlichere Frage, deren Antwort weit über «ja» oder «nein» hinausgeht. Die nämlich, wie die europäische – und schweizerische – Migrationspolitik in Zukunft aussehen soll.
Beitrag von Christina Psarra, Generaldirektorin von Ärzte ohne Grenzen Griechenland
Kriege, Konflikte, extreme Armut und die Folgen des Klimawandels treiben immer mehr Menschen in die Flucht. Ende 2020 waren es rund 82 Millionen. Dass es eine menschenwürdige Art gibt, sie zu empfangen, zeigt derzeit die Ukraine-Krise. Mit offenen Armen werden Ukrainer:innen bei uns aufgenommen, es wurde sogar kurzfristig der Schutzstatus S für sie aktiviert. Dieser ermöglicht es ihnen, in der Schweiz zu arbeiten, Zug, Tram und Bus kostenlos zu nutzen und sich innerhalb des Schengenraums frei zu bewegen. Menschen aus anderen Kriegs- und Krisengebieten bleiben solche Rechte oft verwehrt.
Ungerechte Flüchtlingspolitik
Über die in der Flüchtlingspolitik vorherrschende Doppelmoral wird rege diskutiert. Nichtregierungsorganisationen erinnert der aktuelle Krieg in der Ukraine an den Bosnienkrieg. In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre war das Engagement gross, «unseren slawischen Brüdern» beizustehen. Nahezu gleichzeitig spielte sich in Ruanda jedoch ein beispielloser Völkermord ab, auf den Europa mit Passivität reagierte. Auch heute schaut Europa weg. Sogar dann, wenn Menschenrechte direkt vor den eigenen Grenzen mit Füssen getreten werden.
Um Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea fernzuhalten, baut Europa Zäune und Mauern. Es stattet Auffanglager mit ausgeklügelter Überwachungsapparatur aus. Und trägt dazu bei, dass geschlossene Systeme entstehen, innerhalb derer sich Geflüchtete weder auf ihre Rechte berufen noch dringend benötigte humanitäre Hilfe in Anspruch nehmen können. Viele von ihnen haben auf der Flucht körperliche oder psychische Gewalt erfahren. An den Grenzen Europas werden sie zu Opfern institutioneller Gewalt. Jedes Jahr ertrinken Tausende Flüchtende im Mittelmeer. Andere werden entführt und geschlagen, in der östlichen Ägäis ausgesetzt oder ins Wasser geworfen und in unsichere Staaten zurückgedrängt. Soziale Polarisierung und Verwerfungen sind weltweit auf dem Vormarsch. Was bedeutet es da, mit zweierlei Mass zu messen?
«Flüchtlingsdeals» als Ursache für menschliches Leid
Mit Abkommen zwischen der EU und der Türkei, Malta, Italien und Libyen, Marokko und Spanien schaffen europäische Staats- und Regierungschefs Ausnahmeregelungen. Und weigern sich, die desaströsen Auswirkungen ihrer Politik auf die Gesundheit unzähliger Menschen anzuerkennen. Humanitäre Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen lindern einen Teil des menschlichen Leids, das durch «Flüchtlingsdeals» mitverursacht wird. Sie heilen Kranke, behandeln Verletzte. Doch eine aus den Fugen geratene Politik vermögen unsere Teams nicht auszugleichen. Aktuell wird die europäische Migrationspolitik zu oft von Ungleichbehandlung bestimmt. Die Aufnahme oder Abweisung bestimmter Bevölkerungsgruppen hängt allzu oft an willkürlichen Kriterien wie Nationalität oder Hautfarbe. Das ist inakzeptabel – im Hinblick auf die lange humanitäre Tradition der Schweiz erst recht.
Sichere Fluchtrouten und umfassender Flüchtlingsschutz
Ärzte ohne Grenzen unterstützt viele Menschen auf ihren Fluchtrouten medizinisch. Immer wieder werden unsere Teams Zeugen von Gewalt, die Flüchtende erleiden – sei es in ihrem Herkunftsland, während ihrer Reise oder in den Ländern, die sie eigentlich aufnehmen sollten. Das Problem hat strukturelle politische Ursachen – und Europa und die Schweiz stehen in der Pflicht. Denn: Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit. Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Jeder Mensch hat das Recht auf Sicherheit. Und jeder Mensch muss mit allen Mitteln vor Misshandlung und Folter geschützt werden.
Sichere Fluchtrouten sind ein wichtiger Teil der Lösung. Humanitäre Visa und Resettlements für besonders schutzbedürftige Menschen auch. Flüchtende müssen in Europa und in der Schweiz die Möglichkeit erhalten, Asyl zu beantragen, ohne dabei ihr Leben oder ihre Gesundheit aufs Spiel setzen zu müssen. Dass Geflüchtete eine Belastung für aufnehmende Staaten darstellen, wird gerne behauptet. Das Gegenteil ist wahr. Laut OECD ist der finanzielle Beitrag von Einwanderern unter dem Strich höher als die Ausgaben für Sozialschutz, Gesundheit und Bildung. Die Willkommenskultur, die zurzeit in Europa und der Schweiz deutlich zu spüren ist, können wir nur begrüssen – solange sie für alle gilt. Auch Ansätze und konkrete Instrumente, die eine menschenwürdigere Migrationspolitik für alle ermöglichen, sind vorhanden. Nur eines fehlt noch: der politische Wille.
© Filippo Taddei/MSF