Idlib: Drei Betroffene des nicht enden wollenden Kriegs berichten
Syrien5 Min.
Iman, Hassan und Abou leben in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Wie 2,7 Millionen weitere Syrer*innen wurden sie seit Beginn des Krieges 2011 mehrmals innerhalb des Landes vertrieben.
In der letzten Rebellenhochburg Idlib stehen die Menschen nun mit dem Rücken zur türkischen Grenze, während die syrische Armee und ihre Verbündeten seit Juni wieder Luftangriffe fliegen. So verwandelt sich der letzte Zufluchtsort in ein Freiluftgefängnis unter Beschuss. Drei Schicksalsberichte aus beinahe zehn Jahren Krieg.
Iman: «Nirgends ist es mehr sicher»
Iman Oum Ziad und ihre acht Kinder lebten früher in Ost-Ghouta, östlich von Damaskus. 2013 belagerten syrische Regierungstruppen den Ort und noch im Sommer desselben Jahres wurde das Gebiet mutmasslich mit Chemiewaffen angegriffen. «Wir erlebten den Horror, die Luftangriffe bei Tag und Nacht, die Belagerung und hatten nichts zu essen», erinnert sie sich. Die Blockade führte dazu, dass ihre Mutter aus einem Mangel an Medikamenten starb.
Nach vier Jahren wurde Ost-Ghouta 2017 zur Deeskalationszone, aber Luftangriffe gehörten weiter zum Alltag der Bewohner*innen. Und wie viele Syrer*innen wollte Iman lieber nach Idlib evakuiert werden, als in einem Gebiet unter Regierungskontrolle zu bleiben, als Ost-Ghouta 2018 nach einer gross angelegten Luftoffensive an die Regierung fiel. «An dieses Datum werden wir uns immer erinnern. Es war der Tag, als wir den Ort verlassen mussten, den wir liebten.»
Das Lager, in das sie geflüchtet sind, hat Gemeinschaftslatrinen, sauberes Wasser gibt es kaum, Strom überhaupt nicht. Doch für Iman gibt es kein Zurück.
Solange das Regime an der Macht ist, können wir nicht nach Ghouta. Sie haben klargemacht, dass wir verhaftet oder hingerichtet werden, wenn wir zurückkommen. Kein Ort ist mehr sicher, nicht einmal Idlib.
Denn seit Mitte Juni fliegen die syrische Armee und ihre Verbündeten wieder Luftangriffe. Imans zehnjährige Tochter Jana hat jedes Mal panische Angst, wenn sie Flugzeuge am Himmel hört. «Wir haben uns dann immer im Badezimmer oder unter der Treppe versteckt. Jana weint grundlos und ist immer traurig», erzählt Iman. Einen ihrer Söhne hat der Krieg bereits das Leben gekostet. Er wurde von einem Scharfschützen erschossen, als er Brot holen wollte. Zwei ihrer Töchter sind in Ost-Ghouta geblieben. Sie hören sich selten und wenn, dann über Sprachnachrichten. Alle haben zu viel Angst, anzurufen und von Regierungstruppen verhaftet zu werden. «Meine Familie ist getrennt. Manche sind in Idlib, andere in Ost-Ghouta. Es ist alles auseinandergebrochen.»
Hassan: «Wir hoffen weiter – aber genau das ist es, was uns umbringt»
Als Journalist nahm Hassan Abou Noah an den Protesten teil, auf die ein mehr als neunjähriger Krieg folgte. «Es war meine Pflicht, Widerstand zu leisten», sagt der 33-Jährige. Die erste Vertreibung führte ihn in die Provinz Aleppo. Dort blieb er ein Jahr, aber Anfang 2019 nahmen die Luftangriffe in der Region zu und er musste erneut fliehen. «Die Menschen hatten Angst. Es geschah alles wie in Zeitlupe», erzählt Hassan. «Ich sah alle rennen, aber ich fühlte mich wie betäubt. Wir sprangen in ein Auto und fuhren los. Wir fuhren Stossstange an Stossstange, wie eine Ameisenkolonne.»
Das Ziel der Flucht war Idlib, wo Hassan seither lebt. Er wohnt bei einem Freund, der ein Haus hat, weil er sich keine Miete leisten kann. Seine Frau und seine Kinder sind bei Verwandten in einem anderen Dorf. In der Stadt gibt es nicht genügend Wohnraum, egal ob man Geld hat oder nicht. «Ich schaue auf Idlib und sehe eine deprimierte Stadt, in der es keine Hoffnung gibt. Die Provinz ist völlig isoliert.»
«Ich habe jede Emotion gefühlt, die es gibt»
Jedes Mal, wenn sein jüngster Sohn Adam die Luftangriffe hört, fragt er seinen Vater, ob es donnert. Hassan bestätigt das dann. «Ich habe jede Emotion gefühlt, die es gibt. Ich hatte Angst, ich dachte, dass das vielleicht alles normal ist, ich fühlte mich leer und manchmal auch glücklich», erzählt der Familienvater. «Jetzt frage ich mich, ob ich nicht süchtig nach dieser Situation bin. Früher hatten wir Angst, wenn wir Kugeln pfeifen hörten. Hier hören wir Flugzeuge und Luftangriffe und fangen an, über andere Sachen zu reden.»
Syrien zu verlassen ist für Hassan keine Option. Denn es würde bedeuten, Schlepper bezahlen zu müssen, um in die Türkei zu kommen – rund 12 000 Dollar für seine gesamte Familie. «Ich könnte jederzeit meine Nieren verkaufen», sagt er und lacht. Sein einziger Wunsch ist es, wieder mit seiner Frau und seinen Kindern unter einem Dach wohnen zu können: «Niemand weiss, was passieren wird. Politisch ist nichts klar und unsere Leben sind das auch nicht. Wir hoffen weiter – aber genau das ist es, was uns umbringt.»
Abou: «Wir sind hier gefangen und es gibt nur einen Ausweg...»
Abou Fadel ist in der Provinz Idlib geboren und aufgewachsen, im Dorf Talmenes, fünf Kilometer von Maarat Al Numan – eines der Hauptangriffsziele der Luftangriffe – entfernt. Die letzten sechs Monate lebte er in einem knapp 20 Quadratmeter grossen Zelt mit seiner Frau und fünf Kindern. Auf der Flucht schliefen sie eine Woche in einer Moschee, ehe sie ihr Zelt in dem Lager aufschlugen. Wie verzweifelt ihre Situation ist, sagt Abou ohne Umschweife: «Statt zu fragen, wie ich es schaffe zu überleben, sollten Sie mich fragen, ob ich überlebe. Die Antwort ist nein. Ich leihe mir Geld von Freunden und Verwandten, ohne zu wissen, wann ich es zurückzahlen kann oder ob ich es vor meinem Tod überhaupt noch kann.»
Ich habe fast alles aus meinem Leben vor dem Krieg vergessen. Ich möchte nur ins letzte Jahr zurück, als das Regime uns nur von Zeit zu Zeit bombardierte. Wenigstens gab es damals keine Bodentruppen, die uns bedrohten.
Träume und Sehnsüchte hat Abou nicht mehr. Er macht sich permanent Sorgen um seine Kinder, die wie so viele Kinder in Syrien seit Jahren keine Schule mehr besuchen können und vom Krieg traumatisiert sind. «Gestern habe ich entschieden, meine jüngste Tochter Safa zu verheiraten, um ihre Zukunft zu sichern», erklärt er. «Sie wird bald bei ihrem Mann sein, was das Beste ist, was ihr passieren kann.»
Abou Fadel verbringt seine Tage damit, durchs Lager zu laufen. Dann und wann trinkt er Tee mit seinen Nachbarn. Dass es eine Zukunft für ihn in Syrien gibt, daran glaubt Abou nicht: «Das syrische Regime betrachtet alle, die in Idlib leben, als Terroristen. Mein Cousin wurde in Hama verhaftet, als er Geld abheben wollte. Er kam nie zurück.» Wenn die Situation sich verschlimmert, ist es sein Plan, mit der Familie so nah wie möglich an der türkischen Grenze Zuflucht zu suchen: «Wir sind hier gefangen, es gibt nur einen Ausweg.»