Irak: «Aus Angst gingen wir abseits der Strassen, die ganze Nacht lang»
Irak5 Min.
Im Lager Al Alam bei Tikrit leben rund 8'000 Frauen, Männer und Kinder, die wegen des Konflikts im Norden des Landes ihre Häuser verlassen mussten. Die Familien suchten hier Zuflucht, nachdem es in ihren von Kämpfen verwüsteten Städten und Dörfern nicht mehr genügend Nahrung, Brennstoff und Medikamente gibt.
Das Lager ist in zwei Bereiche unterteilt, die von hohen Metallzäunen umgeben sind. Der Himmel ist stahlgrau, die Zelte sehen aus, als würden sie sich eng an den Boden pressen, um sich vor den Windböen zu schützen. Kinder in Sandalen und dünnen Kleidern spielen zwischen den Zelten. Vor dem Eingang steht eine Familie – mit ihren wenigen Habseligkeiten in den Armen. Die Neuankömmlinge warten auf ihre Registrierung und die Zuweisung eines Zeltes.
«Die Leute haben nur mitgenommen, was sie selbst tragen konnten»
Schon am frühen Morgen bilden sich Warteschlangen in der Klinik des Lagers, die von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) betrieben wird. Schnell füllt sich der Wartebereich mit Müttern und Kindern.
«Die Menschen hier sind geschwächt und auf humanitäre Hilfe angewiesen», erklärt Géraldine Duc, medizinische Koordinatorin bei MSF. «Auf der Flucht vor der Gewalt konnten die meisten nur mitnehmen, was sie selbst tragen konnten. Doch hier herrschen extreme klimatische Bedingungen – im Winter fällt das Thermometer auf den Gefrierpunkt und im Sommer glüht die Sonne vom Himmel. In ihren Zelten schlafen die Menschen auf dünnen Matratzen oder einfach auf dem Boden.»
«Es explodierte in meiner Hand»
Khalid, 19 Jahre, kam im Oktober mit seiner Familie aus Hawidscha, einem Distrikt im Norden, nach Al Alam. «Aus Angst, entdeckt zu werden, gingen wir abseits der Strassen – die ganze Nacht lang», erzählt er. «Während der Flucht sah ich etwas am Boden liegen. Als ich es aufhob, explodierte es in meiner Hand.» Die Explosion verletzte Khalid schwer am Arm und am Kopf. Er musste in verschiedenen Spitälern der Umgebung mehrmals operiert werden. Jetzt lässt er seine Wunden in der MSF-Klinik säubern und verbinden.
Der Distrikt Hawidscha ist seit über zwei Jahren unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staats (IS). Seit der Intensivierung der militärischen Operationen im August sind Zehntausende aus Hawidscha geflohen. Viele der vertriebenen Familien berichten, dass es in der Region an Nahrung und Brennstoff mangelt.
Seit Anfang 2014 wurden mehr als drei Millionen Irakerinnen und Iraker durch die Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben. Der Konflikt brachte die öffentliche Gesundheitsversorgung praktisch zum Erliegen, während der medizinische Bedarf stetig anstieg.
In Rohbauten leben
MSF gewährleistet medizinische Versorgung und bietet psychologische Unterstützung im Transitlager Al Hajjaj Silo sowie in Samad, einem Quartier von Al Alam, wo vertriebene Familien in halbfertigen Gebäuden Unterschlupf gefunden haben.
Drei Frauen warten vor der mobilen Klinik von MSF in Al Hajjaj Silo. Sie kamen vor Kurzem zu Fuss von Hawidscha hierher. Sie haben zwei Babys bei sich, die beide in derselben Nacht vor sechs Monaten geboren wurden, aber eines ist viel kleiner als das andere.
«Es hat einen Herzfehler», sagt die Mutter. «Weil es in Hawidscha nicht genug zu essen gibt, sind wir die ganze Nacht über die Berge gelaufen, um hier Schutz zu suchen. In Hawidscha gibt es keine Ärzte und alles – Brennstoff, Medikamente, Seife – ist sehr teuer.»
Eine traumatische Erfahrung nach der andern
Die meisten Vertriebenen in der Umgebung von Tikrit stammen aus Hawidscha im Nordosten oder aus Shirqat und Baidschi im Nordwesten. Fast alle sind Opfer oder Zeugen von brutaler Gewalt geworden, was oft schwere psychologische Folgen nach sich zieht. Das Trauma der Vertreibung und der Trennung von Angehörigen sowie die eingeschränkte Verfügbarkeit von Medikamenten haben bereits bestehende psychische Leiden weiter verschärft. Schlechte Lebensbedingungen und die ungewisse Zukunft bedeuten zusätzliche Belastung. Unter diesen Umständen stellt die psychologische Hilfe einen wesentlichen Bestandteil der Arbeit von MSF dar.
«Viele unserer Patienten weisen Symptome von Stress und Trauma auf», berichtet Ana Martins, die als Mental Health Activity Manager im Bereich psychische Gesundheit bei MSF tätig ist. «Sie haben nicht nur ein- oder zweimal traumatische Erlebnisse erfahren, sondern waren fortlaufend furchtbaren Ereignissen und grausamer Gewalt ausgesetzt. Das widerspiegelt sich jetzt in Symptomen wie Panikattacken, posttraumatischen Belastungsstörungen, Schlaflosigkeit und generellen körperlichen Schmerzen.»
Die psychosozialen Betreuer von MSF unterstützen die Patienten, damit sich diese Symptome nicht verschlimmern. Gewisse Patienten leiden jedoch unter derart gravierenden Beschwerden, dass sie spezialisierte psychiatrische Hilfe benötigen. Doch diese ist nicht so leicht zu organisieren, wie Ana Martins erklärt.
«Manche unserer Patienten müssten in eine spezialisierte psychiatrische Klinik überwiesen werden», sagt sie. «Aber im Spital von Salaheddin gibt es nur einen einzigen Psychiater und oft fehlen geeignete Psychopharmaka. Überweisungen werden zusätzlich dadurch erschwert, dass die Patienten über die nötigen Dokumente verfügen müssen, um die Sicherheitskontrollen an den Checkpoints zu passieren und im Spital aufgenommen zu werden.»
Die Vertriebenen im Irak befinden sich in der Zwickmühle: In den relativ sicheren Zonen, wo die Bevölkerung Zuflucht sucht, sind die Bedingungen alles andere als ideal. Doch auch die Rückkehr in die Heimat ist wegen der anhaltenden Instabilität und des Mangels an grundlegenden Dingen äusserst schwierig.
MSF betreibt seit August 2016 mobile Kliniken in den Lagern und den improvisierten Siedlungen in der Umgebung von Tikrit. Die Hilfsorganisation leistet medizinische Versorgung, behandelt chronische Leiden und bietet psychologische Betreuung an. Im Januar 2017 eröffnete MSF im Lager Al Alam eine permanente Klinik mit einer Stabilisierungsstation.
MSF ist seit 2006 im Irak tätig. Zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit nimmt die Organisation für ihre Programme im Irak keinerlei Gelder von Regierungen, religiösen Gruppierungen und internationalen Organisationen an. Die Projekte werden ausschliesslich durch private Spenden finanziert. Im Irak arbeiten derzeit über 1'600 Mitarbeitende von MSF.