Jemen: Die Zivilbevölkerung leidet massiv unter Minen auf Straßen und Feldern.
© Agnes Varraine-Leca/MSF
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Anfang 2018 verschärften sich die Kämpfe an der Frontlinie zwischen Taizz und Al-Hudaida. Dabei standen sich die Truppen von Ansar Allah und die Streitkräfte der von Saudi-Arabien und den Emiraten geführten Militärallianz gegenüber. Um den Vormarsch der von der Koalition unterstützten militärischen Bodentruppen zu verhindern, wurden Tausende von Minen und Sprengvorrichtungen auf den Strassen und Feldern der Region gelegt. Die Leidtragenden dieser versteckten Gefahr sind vor allem Zivilisten. Ihnen drohen Tod, Amputationen und Verstümmelungen. Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) fordert die Behörden und Experten für Minenräumung dazu auf, mehr Räumaktionen in zivilen Gebieten durchzuführen, um die Zahl der Opfer zu verringern.
Im Innenhof des Zeltspitals, das von den MSF-Teams in Mokka im vergangenen August eröffnet wurde, kündigt das Läuten der Glocke die Ankunft neuer Patientinnen und Patienten an. Ein Pick-up mit Raketenwerfer fährt hinein und lädt vier Verletzte vor der Notaufnahme ab. Zwei sind bereits tot, die anderen beiden leben noch. Es sind zwei Kinder mit hastig angelegten Verbänden. Einige Stunden zuvor waren sie mit ihren Familien auf den rund 30 Kilometer entfernten Feldern von Mawza unterwegs, als eines von ihnen eine Mine auslöste.
Auch der 14-jährige Nasser wurde von einer explodierenden Mine verletzt. An der rechten Hand hat er eine Narbe und sein Daumen fehlt – dieser musste vor einigen Jahren aufgrund einer Kugel amputiert werden. Heute steht er zum ersten Mal auf seinen Krücken und versucht, sein Gleichgewicht zu finden. Am 7. Dezember trat er auf eine Mine in den Feldern von Mafraq Al Mocha, im Gouvernement von Taizz, als er mit seinem Onkel und Cousin die Schafe der Familie hütete.
Nasser wurde am gleichen Tag noch im MSF-Spital im 50 km entfernten Mokka operiert: Sein rechtes Bein musste ab dem Knie abwärts amputiert werden. Wegen seines fehlenden Daumens fällt es ihm schwer, sich richtig auf den Krücken abzustützen. MSF-Physiotherapeut Farouk hilft ihm, einige Schritte zwischen den Betten der Krankenstation des MSF-Spitals zu machen. «Der Knochen war völlig zerstört, so dass nichts mehr zu retten war», sagt Farouk traurig.
Nassers Vater hat seit dem Unfall Angst, die Felder von Mafraq al Mocha zu betreten. «Wir wissen, dass um die Stadt herum Minen verteilt wurden, aber das Problem ist, dass wir nicht genau wissen, wo», erklärt er. Es gibt nur eine Handvoll Schilder, die auf das Vorhandensein von Minen hindeuten. Nur ein paar rot lackierte Steine zeigen, wo man sicher laufen kann. Jeden Tag hört man gedämpfte Explosionen, wenn weitere Sprengsätze ausgelöst werden.
Doppelt bestraft
Vor dem Krieg wurde das Gebiet zwischen Mokka und der Frontlinie landwirtschaftlich genutzt. Seit Beginn der Kämpfe sind viele Bewohnerinnen und Bewohner aus den Städten und Dörfern nahe den Kampfgebieten – wie Mafraq Al Mocha, wo MSF Gesundheitsposten nahe der Front unterstützt – geflohen. Die umliegenden Felder wurden verlassen und mit Minen versehen, um den Vormarsch militärischer Truppen zu verhindern. Dies machte sie unnutzbar und führte dazu, dass die Bevölkerung ihre Existenzgrundlage verlor. So hat sich die Bevölkerung im Distrikt Mawza, per Auto 45 Minuten von Mokka entfernt, halbiert.
Menschen, die hier leben, werden bestraft – nicht einmal, sondern zweimal. Die Minen sprengen nicht nur ihre Kinder in die Luft, sondern hindern sie auch daran, ihre Felder zu bewirtschaften. Sie verlieren ihre Einkommensquelle und Nahrungsmittel für ihre Familien
In Zeitraum von August bis Dezember 2018 haben die Teams von MSF in Mokka mehr als 150 Verletzte aufgenommen und behandelt, die von Minen und improvisierten Sprengkörpern getroffen wurden. Ein Drittel von ihnen waren Kinder, die z. B. auf Feldern gespielt hatten. Sie sind lebenslang beeinträchtigt und ihre Zukunft ist ungewiss.
Minen haben weitreichende Auswirkungen – nicht nur für die einzelnen Familien, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. Denn die Betroffenen werden in Zukunft wahrscheinlich stärker von anderen abhängig und gleichzeitig sozial isoliert sein. In den landwirtschaftlichen Gebieten hat die Aufgabe der Feldbewirtschaftung aufgrund der Minen unmittelbare ökonomische Auswirkungen auf die Familien.
Unzureichende Minenräumung
Tausende von Sprengkörpern werden von nun an und für Jahrzehnte das Leben der Zivilbevölkerung im Jemen bedrohen. Nach Angaben des Yemen Executive Mine Action Centre wurden zwischen 2016 und 2018 300’000 Minen von der jemenitischen Armee entschärft. In einem kürzlich erschienenen Bericht berichtete Conflict Armament Research über die massive und standardisierte Produktion von Minen und improvisierten Sprengkörpern durch die Truppen von Ansar Allah sowie über den Einsatz von Antipersonen-, Antifahrzeug- und Seeminen.
Die Minenräumung dient fast ausschliesslich militärischen Zwecken und konzentriert sich somit auf strategische Strassen und Infrastrukturen, wobei die zivilen Zonen vernachlässigt werden. «Spezialisierte Organisationen und Behörden müssen ihre Anstrengungen zur Minenräumung in der Region verstärken, um die Anzahl der Betroffenen zu reduzieren», erklärt unsere Einsatzleiterin Claire Ha-Duong.
Neben der militärischen Minenräumung, die von einer begrenzten Anzahl an Akteuren durchgeführt wird und nur strategische Gebiete für militärische Zwecke betrifft, müssen in den zivilen Gebieten dringend alle Arten von Minen und Sprengkörpern geräumt werden – nicht nur an Orten, an denen Menschen leben, sondern auch auf den Feldern, damit die Menschen diese wieder in aller Sicherheit nutzen können.
Medizinische Einöde
Jeden Tag kommen neue Kriegsverwundete wie Ali und Omar von den Frontlinien zwischen Taizz und Al-Hudaida im MSF-Spital in Mokka an. 2012 hat MSF in Aden ein spezialisiertes Trauma-Spital eröffnet, das 450 km von Al-Hudaida entfernt liegt. Obwohl in Aden medizinische Versorgung zur Verfügung steht, haben die meisten Jemeniten kein Geld für den Transport dorthin.
Es dauert sechs bis acht Stunden, um von Al-Hudaida nach Aden zu fahren. Das Gebiet zwischen den beiden Städten ist zu einer medizinischen Einöde für die Menschen geworden, die dort leben. Unser Spital in Mokka ist die einzige Einrichtung in der Region mit einem Operationssaal.
Das Gebiet zwischen Al-Hudaida und Aden ist eine ländliche und sehr arme Gegend. Nicht nur, dass sich die Menschen die Gesundheitsversorgung nicht leisten können, sie können sich auch nirgends operieren lassen, ausser in unserem Spital.
Oft schaffen es die Kriegsverletzten nicht, Mokka rechtzeitig zu erreichen und sie sterben an Verletzungen, die hätten behandelt werden können. Manchmal sind es auch schwangere Frauen, die aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung bei der Geburt sterben.
«Die Kriegsverwundeten kommen oft sehr spät und in kritischem Zustand mit Infektionen in Mokka an, weil ihre Stabilisierung an der Front nicht immer gut gelungen ist. Minen verursachen besonders schwere Schäden. Es kommt zu komplexen Frakturen, die schwer zu operieren sind und oft Amputationen und lange Monate der Rehabilitation erfordern», sagt Husni Abdallah.
Nassers Onkel wurde zur gleichen Zeit wie sein Neffe verwundet und bekam Splitter in die Augen. Er wurde direkt ins MSF-Spital in das 270 Kilometer von Aden entfernte Mokka verlegt, um eine angemessenere Behandlung zu erhalten. Seit der Eröffnung des MSF-Spitals in Mokka wurden mehr als 2000 Konsultationen in der Notaufnahme sowie rund tausend Operationen durchgeführt.
© Agnes Varraine-Leca/MSF