Libyen: Ärzte ohne Grenzen muss aufgrund massiver Gewalt in Internierungslagern von Tripolis Hilfe vorübergehend einstellen

Eine Mutter mit ihrem Kind, die in einem Internierungslager in Libyen festgehalten werden.

Libyen4 Min.

Nach wiederholter Gewalt gegen Geflüchtete und Migrant*innen, die in zwei Internierungslagern in der libyschen Stadt Tripolis festgehalten werden, sieht sich die Organisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) gezwungen, ihre Arbeit in Mabani und Abu Salim vorübergehend auszusetzen.

«Diese Entscheidung fällt uns nicht leicht, denn sie bedeutet, dass wir nicht in jenen Lagern sein werden, von denen wir wissen, dass die Menschen dort täglich leiden», erklärt die Einsatzleiterin von MSF in Libyen, Beatrice Lau. «Der anhaltende Einsatz von Gewalt und schwere Verletzungen von Geflüchteten und Migrant*innen sowie das Sicherheitsrisiko für unsere Mitarbeiter*innen haben jedoch ein Niveau erreicht, das wir nicht länger akzeptieren können. Bis die Gewalt aufhört und sich die Bedingungen verbessern, kann MSF in diesen Einrichtungen keine humanitäre und medizinische Hilfe mehr leisten.»

Seit Februar dieses Jahres haben Misshandlungen und Gewalt gegen Menschen, die in diesen Internierungslagern festgehalten werden, kontinuierlich zugenommen. Innerhalb von nur einer Woche wurden die MSF-Teams Zeugen von mindestens drei gewalttätigen Vorfällen, die zu schweren physischen und psychischen Schäden führten.

Während eines Besuchs am 17. Juni im Internierungslager Mabani, in dem Schätzungen zufolge mindestens 2 000 Menschen in stark überfüllten Zellen festgehalten werden, wurden die MSF-Teams Zeugen von Gewalttaten durch das Wachpersonal: Menschen, die versuchten, ihre Zellen zu verlassen, um von MSF-Ärzt*innen behandelt zu werden, wurden willkürlich verprügelt.

Männer, die im Internierungslager Abu Salim in Tripolis, Libyen, festgehalten werden.

Seit Februar 2021 nehmen die Fälle von Misshandlung, körperlichem Missbrauch und Gewalt gegen die Menschen in diesen Internierungslagern immer weiter zu. Tripolis, Libyen, 2017

© Guillaume Binet/Myop

Während eines Besuchs am 17. Juni im Internierungslager Mabani, in dem Schätzungen zufolge mindestens 2 000 Menschen in stark überfüllten Zellen festgehalten werden, wurden die MSF-Teams Zeugen von Gewalttaten durch das Wachpersonal: Menschen, die versuchten, ihre Zellen zu verlassen, um von MSF-Ärzt*innen behandelt zu werden, wurden willkürlich verprügelt.

Das MSF-Team erhielt Berichte über erhöhte Spannungen in der vorangehenden Nacht, die in massiver Gewalt gipfelten. Sowohl Migrant*innen und Geflüchtete als auch Wachleute wurden dabei verletzt: MSF behandelte 19 Patient*innen mit Verletzungen, die durch die Schläge verursacht wurden, darunter Frakturen, Schnittwunden, Schürfwunden und stumpfe Verletzungen. Ein unbegleitetes Kind konnte nicht mehr gehen, nachdem es schwere Verletzungen an den Knöcheln erlitten hatte. Andere sprachen von körperlichen und verbalen Misshandlungen durch Wachleute.

Zu Beginn derselben Woche, am 13. Juni, wurde mit Maschinengewehren auf Menschen im Abu-Salim-Gefangenenlager geschossen, was Berichten zufolge mehrere Opfer forderte. Nach dem Vorfall wurde den MSF-Teams sieben Tage lang der Zugang zum Internierungslager verweigert

Die Zunahme der Gewalt seit Anfang 2021 geht einher mit dem gleichzeitig deutlichen Anstieg der Zahl von Geflüchteten, Migrant*innen und Asylsuchenden, die von der EU-finanzierten libyschen Küstenwache auf See abgefangen, zwangsweise nach Libyen zurückgeführt und in Internierungslagern eingesperrt werden. Bis zum 19. Juni wurden dieses Jahr über 14 000 Menschen abgefangen und nach Libyen zurückgeführt, was bereits die Gesamtzahl der Zwangsrückführungen im gesamten Jahr 2020 übersteigt.

Un garde ferme la porte d’une cellule du centre de détention d’Abu Salim, à Tripoli, Libye

Ein Wächter schliesst die Tür einer Zelle des Internierungslagers Abu Salim. Tripolis, Libyen, 2017

© Guillaume Binet/Myop

Dies hat zu einer starken Überbelegung und einer Verschlechterung der ohnehin desolaten Bedingungen innerhalb der Lager geführt. In den meisten fehlt es an Belüftung und natürlichem Licht; einige sind so überfüllt, dass sich bis zu vier Personen einen Quadratmeter Platz teilen müssen, was die Menschen dazu zwingt, sich in Schichten hinzulegen und zu schlafen. Die Menschen haben keinen regelmässigen Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen.

Ausserdem erhalten die Migrant*innen und Geflüchteten zu wenig Nahrungsmittel. Sie bekommen nur ein oder zwei kleine Mahlzeiten am Tag, meistens ein kleines Stück Brot mit Käse oder einen Teller Makkaroni, den sie sich mit vielen anderen teilen müssen. MSF-Ärzt*innen haben beobachtet, dass die Menschen angesichts des Nahrungsmangels manchmal ihre Medikamente gegen den Hunger einnehmen. Der Mangel an ausreichend nahrhaften Nahrungsmitteln hat dazu geführt, dass einige Frauen keine Muttermilch mehr produzieren. Eine Frau berichtetet den MSF-Teams, dass sie so verzweifelt war, ihr fünf Tage altes Baby zu ernähren, dass sie versuchte, ihre Ration an fester Nahrung ihrem Säugling zu geben, damit er nicht verhungerte.

MSF fordert ein Ende der Gewalt und eine Verbesserung der Bedingungen für Geflüchtete und Migrant*innen, die in den Lagern Mabani und Abu Salim festgehalten werden. MSF wiederholt ausserdem ihre Forderung nach einem Ende der langjährigen Praxis der willkürlichen Inhaftierungen in Libyen und nach der sofortigen Evakuierung von Geflüchteten, Asylsuchenden und Migrant*innen aus Libyen, die dort lebensbedrohlichen Risiken ausgesetzt sind.

Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) arbeitet seit 2016 in Internierungslagern in Libyen und betreut die Menschen medizinisch und psychologisch. Die MSF-Teams identifizieren ausserdem gefährdete Menschen und überweisen Patientinnen, die eine Spezialbehandlung benötigen, an Spitäler in ganz Libyen. In der ersten Jahreshälfte 2021 versorgten die Teams, die in Internierungslagern in Tripolis arbeiteten, 8 920 Patientinnen medizinisch, führten 9 248 medizinische Untersuchungen durch und führten die Überweisung von 405 Patient*innen an Spitäler in der Stadt durch.