Libyen: Für die mentale Gesundheit der Menschen in den Internierungslagern braucht es mehr als Medikamente
© Sara Creta / MSF
Libyen5 Min.
Bericht von Sandra Miller, ehemalige Leiterin der pflegerischen Tätigkeiten von MSF in Tripolis
Dschansur, ausserhalb von Tripolis. Eine Frau hängt auf ihrer Terrasse im fünften Stock die nassen, bunten Kleider in die morgendliche Brise. Der Himmel ist düster. Der Stacheldraht auf der anderen Strassenseite blockiert die Sicht. Hinter diesen Mauern sind mehr als hundert Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge eingesperrt. An den schmutzigen Mauern hängen T-Shirts und Schuhe.
Das Team von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF), mit dem ich in den letzten sechs Monaten zusammengearbeitet habe, betritt das schwer bewachte Internierungslager mit Medikamenten, Lebensmitteln und einer Schachtel voller Notizhefte. Ziel des Besuches ist es, sowohl auf die physischen wie auch die psychischen Gesundheitsbedürfnisse der Internierten einzugehen. Die Menschen hier im Lager leiden an einer Reihe von Krankheiten, die von den prekären und unmenschlichen Lebensbedingungen zusätzlich verschlimmert werden. Ausserdem nehmen Angstzustände und Angstattacken, Schlafstörungen und Depressionen unter den Internierten beständig zu.
Der herrschende Kampf um Tripolis verschlimmert die Gesundheitsprobleme der Internierten
In den letzten Monaten verschlimmerten sich die physischen und mentalen Gesundheitsprobleme der Internierten aufgrund der gewaltsamen Zusammenstösse in Tripolis noch zusätzlich. Es handelt sich um den dritten Gewaltausbruch in sieben Monaten.
Die Kämpfe gefährden die Zivilbevölkerung in Tripolis und Umgebung, und die mehr als 3000 Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge sind in akuter Gefahr, getötet oder verletzt zu werden, da die Internierungslager willkürlichem Beschuss, Bombardierungen und Luftangriffen ausgesetzt sind.
Als wir das Gefangenenlager Anjila betreten und uns auf die Arbeit vorbereiten, wird eine Gruppe von ca. 80 Männern aus einer übervollen Zelle geholt und von den Wärtern geheissen, sich in Zehnerreihen niederzusetzen. Viele sehen nur noch halb lebendig aus. Mit leerem Blick und emotionslosen Gesichtern schauen sie zur jungen Frau in der weissen Weste mit dem rotem Logo, die vor ihnen steht. Balkees Mgadami, eine 24-jährige libysche Dolmetscherin, spricht mit ruhiger, aber bestimmter Stimme:
Guten Morgen. Wir sind Ärzte ohne Grenzen.
Sie wechselt fliessend zwischen Arabisch, Französisch und Englisch und erklärt, dass das medizinische Personal jede Woche in das Internierungslager kommt, um medizinische Hilfe zu leisten. Am Ende ihrer einführenden Erklärungen fügt sie etwas Wichtiges an: «Heute verteilen wir Notizhefte und Stifte. Ihr könnt darin etwas zeichnen oder wenn ihr Ideen habt, könnt ihr sie aufschreiben. Das kann helfen.»
Das ist zwar nur eine kleine Geste, kann aber für die Menschen, die so viel durchgemacht haben und nun im Internierungslager eingesperrt sind, einen grossen Unterschied machen.
Die Flüchtlinge werden durch die Inhaftierung auf traumatische Erlebnisse zurückgeworfen
«Die Menschen hier sind in ihren Gedanken gefangen, weil sie an einem Ort festgehalten werden, wo sie fast nichts machen können» erklärt Hisham Sofrani, Sozialarbeiter von MSF. «Für die mentale Gesundheit ist das höchst problematisch: Die Menschen werden erneut in einer Situation festgehalten, die sehr schwierig ist, und sie haben keine Zukunftsperspektive. So werden sie in Flashbacks immer wieder auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen, insbesondere auf negative Erfahrungen.»
Viele der Internierten sind traumatisiert, da sie von Menschenhändlern festgehalten und gefoltert wurden. Andere haben beim Versuch, über das Mittelmeer zu kommen, ihre Liebsten ertrinken sehen, und sind dann abgefangen und nach Libyen zurückgeschafft worden.
MSF leistet medizinische Hilfe und vermittelt Überlebensstrategien
Mentale Stimulation durch Schreiben und Zeichnen sowie Spiele wie Drei gewinnt können ein therapeutisches Mittel sein, um Menschen zu helfen, sich auszudrücken und mit den gefährlichen Situationen, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind, umzugehen. Auch kann es helfen, den sozialen Zusammenhalt unter den Internierten, die aus unterschiedlichen Kontexten kommen und unterschiedlichste Erfahrungen gemacht haben, zu stärken. In Gefangenschaft kann ein Stift manchmal mehr bewirken als Pillen.
«Wir sagen nicht, dass wir ihre Probleme lösen können, aber wir versuchen, die negativen Folgen einer Inhaftierung zu minimieren», erklärt Sofrani. «Wir versuchen, den Menschen Bewältigungsmechanismen und Aktivitäten mitzugeben, die ihnen helfen können, zu überleben.»
Das Wichtigste in einer solchen Situation ist, zu überleben.
Während das medizinische Personal die Menschen auf Krankheiten wie Atemwegsinfektionen, akuten wässrigen Durchfall, Krätze und Tuberkulose untersuchen, versammelt sich auf der anderen Seite des Lagers eine kleine Gruppe auf Fussmatten. Ein Berater spricht mit ihnen über Stress. Gemeinsam diskutieren sie, was Stress verursacht, welche Folgeerscheinungen wie Schlafstörungen dieser mit sich bringen kann und wie sie und ihre Mitinhaftierten damit umgehen können. Danach führen sie einfache Entspannungsübungen durch, im Stehen atmen sie alle tief ein und aus. Die Gruppe folgt dem Berater aufmerksam und bei einigen zeichnet sich sogar ein Lächeln ab; ein Stück Leben kehrt in ihre Gesichter zurück.
Als sich der Arbeitstag in der Haftanstalt Anjila seinem Ende zuneigt, sehe ich mit mulmigem Gefühl zu, wie die Menschen zurück in ihre Zelle gebracht werden. Die Menschen brauchen nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern Menschen, die ihnen zuhören. Sie müssen wissen, dass sich Menschen, irgendwo da draussen, um sie sorgen und sie mit der Würde behandeln, die sie verdienen.
In ganz Libyen werden derzeit schätzungsweise 6000 Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten in offiziellen, staatlichen Internierungslagern des libyschen Innenministeriums festgehalten. Viele flohen aus weit entfernten Ländern auf der Suche nach einer sichereren Zukunft. Auf ihrer Flucht nach Libyen mussten sie feststellen, dass sie neue Gefahren wie Erpressung, Folter, sexueller Gewalt, Ausbeutung und Zwangsarbeit ausgesetzt waren. Obwohl diese schutzbedürftigen Menschen keine Straftaten begangen haben, werden sie auf unbestimmte Zeit und unter Bedingungen festgehalten, die weit unter internationalen Standards liegen und sowohl ihrer körperlichen als auch ihrer geistigen Gesundheit schaden.
Seit dem Ausbruch der Kämpfe am 4. April 2019 fordert MSF die internationale Gemeinschaft auf, Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, die in der Nähe der Konfliktgebiete gefangen sind, aus Libyen zu evakuieren. Dies ist die einzige Möglichkeit, die Menschen an einen sicheren Ort zu bringen. Bisher wurden lediglich 455 Personen aus dem Land gebracht. Gleichzeitig wurden zwischen 300 und 400 Personen auf dem Mittelmeer abgefangen und unter Verletzung des Völkerrechts gewaltsam nach Libyen zurückgeschafft. Dort werden sie weiterhin unter gefährlichen Haftbedingungen festgehalten
© Sara Creta / MSF