Libyen: Gefangen im Alptraum von Zwangsinternierung, Folter und Ausbeutung
© Aurelie Baumel/MSF
Libyen6 Min.
Migrant*innen, die in Libyen als Sklaven verkauft wurden – diese Bilder des Fernsehsenders CNN, sorgten 2017 rund um die Welt für Entsetzen. Dem globalen Aufschrei folgte das Versprechen führender Politiker*innen in Europa, Afrika und Libyen, Massnahmen zum Schutz fliehender Menschen umzusetzen. Doch bis heute hat sich nicht viel geändert. Tausende Migrant*innen und Geflüchtete, die interniert oder sich selbst überlassen werden, sind in einem endlosen Kreislauf der Gewalt. Dennoch wurden im vergangenen Jahr nur rund 2100 Flüchtlinge vom UNHCR aus Libyen in Sicherheit gebracht, aber fast 9000 Menschen bei einem Fluchtversuch auf dem Seeweg aufgegriffen und zwangsweise zurückgeführt. Die Geschichten von Ahmed und Hamza zeigen, welchen nicht enden wollenden Alptraum Geflüchtete in Libyen durchleben müssen.
Seit Jahrzehnten kommen Menschen aus dem benachbarten Niger und anderen Ländern südlich der Sahara in das ölreiche Libyen um Arbeit zu suchen. Zudem ist das Land zum wichtigsten Tor für diejenigen geworden, die vor Repression, Konflikten und Armut in der Region Richtung Europa fliehen. Zusammengenommen leben schätzungsweise 700 000 bis eine Million Migrant*innen und Geflüchtete in dem nordafrikanischen Land. Mit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi und dem darauffolgenden Bürgerkrieg ist die Verwaltung zusammengebrochen. Der Schwarzmarkt floriert und basiert auf der Ausbeutung von Ressourcen und illegalem Handel mit Öl, Waffen und Menschen.
«Die Gruppe, die mit mir das Alles überlebt hat, wurde wieder dorthin geschickt, wo sie versucht hatten, uns zu verkaufen. Also wieder zurück zum Anfang …»
«Im Februar letzten Jahres hat die libysche Küstenwache das Boot, mit dem ich Libyen verlassen wollte, aufgegriffen. Nach der Festnahme wurde ich in das Souk-Al-Kahmis-Internierungslager in der Stadt Khoms gebracht. Teams des UNHCR kamen uns in Souk-al-Khamis besuchen und haben mich für einen Transfer nach Tripolis auf die Liste genommen.
Ein paar Tage später kamen die Gefängnisleiter und sagten uns, wir sollten in zwei Minibusse steigen. Wir dachten, jetzt werden wir endlich in Sicherheit gebracht. Aber nach ein paar Stunden Busfahrt kamen wir immer weiter in die Wüste. Da wurde mir klar, dass wir wohl nicht nach Tripolis fuhren, sondern an Schlepper verkauft werden sollten. Diese Vermutung bestätigte sich, als ich bewaffnete Männer in Pick-Ups erblickte, die sich uns näherten. Aus Angst versuchten wir alle zu fliehen. Mindestens zwei Menschen starben beim folgenden Schusswechsel. Mit einer kleinen Gruppe gelangten wir in der Morgendämmerung in eine kleine Stadt, wo uns ein alter Mann etwas zu essen und zu trinken gegeben und die Behörden über uns informiert hat.
Wir wurden in das Internierungslager Sirte gebracht, wo wir fünf Monate lang blieben und mehrmals von Teams von Ärzte ohne Grenzen behandelt wurden. Dann wurden wir in ein anderes Gefängnis in Misrata gebracht. Das war das Schlimmste. Ich fühlte mich nicht gesund, und Ärzte ohne Grenzen brachte mich ins Krankenhaus, um meine Tuberkulose zu behandeln. Ich habe erfahren, dass das Internierungslager Misrata nun geschlossen ist und dass die Gruppe, die mit mir das Alles überlebt hat, wieder nach Souk-Al- Khamis geschickt wurde. Dorthin, wo sie versucht hatten, uns zu verkaufen. Also wieder zurück zum Anfang …»
Ahmed (21, aus Mogadischu/Somalia)
«Fünf Monate lang misshandelten und folterten mich meine Entführer. Sie filmten diese Szenen regelmässig …»
«Ich habe Somalia in dem Glauben verlassen, dass ich nach Europa gehen könnte, um Arbeit zu finden und meiner Familie etwas Geld zu schicken, damit sie ein besseres Leben führen können. In Libyen änderte sich alles. Ich wurde gefangen genommen. Fünf Monate lang misshandelten und folterten mich meine Entführer. Sie filmten diese Szenen regelmässig, um sie meiner Mutter zu schicken. Sie wollten, dass sie Geld schickt. Ich weiss nicht, wie meine Mutter es geschafft hat. Wahrscheinlich durch die Grosszügigkeit mehrerer Clans und Dörfer konnte sie 15 000 Dollar aufbringen.
Glücklicherweise haben mich meine Entführer dann endlich freigelassen. Heute leide ich an schwerer Mangelernährung und Blutarmut, ich wiege nur 30 Kilo. Mitarbeiter*innen von Ärzte ohne Grenzen behandelten mich in Bani Walid und schliesslich in dieser Klinik in Tripolis.»
Hamza (16, aus Somalia)
Massive Menschenrechtsverletzungen in Internierungslagern
Gleichzeitig kriminalisiert das libysche Recht die irreguläre Ein- und Ausreise und den Aufenthalt auf seinem Territorium mit Gefängnisstrafen und Abschiebungen - unabhängig von möglichen individuellen Schutzbedürfnissen. Libyen verfügt über kein Asylsystem und hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert. Im Land werden die Zurückgebrachten in verschiedenen Internierungslagern festgehalten. In den offiziellen Einrichtungen unter Aufsicht des libyschen Innenministeriums werden zurzeit zwischen 3000 und 5000 Menschen festgehalten. Die meisten von ihnen sind beim UNHCR als Flüchtlinge registriert. Wie viele Menschen über das Land verstreut von Menschenhändler*innen in inoffiziellen Internierungslagern gefangen gehalten werden ist unbekannt. Die Bedingungen in diesen Lagern sind entsetzlich. Teilweise werden Menschen in völliger Dunkelheit eingesperrt, können sich mehrere Monate lang nicht richtig bewegen oder essen. In vielen Lagern werden die Internierten missbraucht und gefoltert, um Geld von ihnen zu erpressen. Erschreckend Zustände, die sowohl von Ärzte ohne Grenzen als auch durch Beobachterinnen und Beobachter der Vereinten Nationen (UN) dokumentiert und öffentlich gemacht wurden. Wenn Menschen fliehen wollen und die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen, werden sie vielfach von der EU-unterstützten libyschen Küstenwache zurückgezwungen.
Unsere Teams behandeln einige von jenen, die es geschafft haben, sich zu befreien. Sie sehen die vernarbten und gebrochenen Körper der Überlebenden und hören schreckliche Geschichten von brennendem Plastik, das auf die Haut gegossen wurde und täglichen Schlägen und Folter, während Angehörige der Opfer am Telefon zuhören, um sie zu Geldzahlungen zu überreden.
Zwangsrückführungen übersteigen Evakuierung um Vielfaches
Gemeinsam mit der Afrikanischen Union (AU) und der UN hat die EU eine Taskforce eingesetzt. Diese soll zum einen die freiwillige Rückkehr von Migrant*innen und Migranten vorantreiben. Zum anderen soll die Taskforce humanitäre Evakuierungen von Geflüchteten durch das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) ermöglichen. Doch dieser Mechanismus kommt z.B. wegen des gravierenden Mangels an Aufnahmekapazitäten in sicheren Ländern nur schleppend voran. Seit 2017 hat das UNHCR fast 3000 Geflüchtete aus Libyen in ein Transitzentrum in Niamey (Niger) evakuiert.
Im Gegensatz zu dem extrem begrenzten Evakuierungssystem werden Zwangsrückführung nach Libyen mit voller Kapazität betrieben. 2019 wurden nur rund 2100 Flüchtlinge vom UNHCR aus Libyen in Sicherheit gebracht, aber fast 9000 Menschen bei einem Fluchtversuch auf dem Seeweg aufgegriffen und zwangsweise zurückgeführt. Selbst die gravierende Verschlechterung der Lage in Libyen nach der jüngsten Eskalation des bewaffneten Konflikts im April 2019 hat die europäische Politik nicht verändert.
Gefangen zwischen Abwarten, Schiffsunglücken und Internierung
Bei den Menschen in den Internierungslagern an der Küste Libyens herrscht daher vor allem Hoffnungslosigkeit. So berichtet unsere Psychologin Kristin Pelzer: «Ein Geflüchteter, der schon lange in dieser Haftanstalt war und mich kannte, dachte, es würde mich wohlmöglich kränken, als er sagte: ‚Kristin, versteh das nicht falsch. Du bist hier nutzlos. Aber für uns ist es sehr gut, dass du hier bist.‘ Ich denke, das beschreibt für mich sehr gut den Rahmen dessen, was wir in solchen Kontexten leisten können. Wir können die Situation nicht ändern, aber dennoch hilft unsere Anwesenheit den Menschen.»
Libyen ist kein sicheres Land – unsere Forderungen
Es gibt derzeit in Libyen keine Orte, die ein Minimum an Sicherheit für schutzbedürftige Migrant*innen und Flüchtlinge garantieren können. Prinzipien wie der Schutz von Asylsuchenden oder die Unterstützung von Menschen im Namen der Menschlichkeit sind aus dem Diskurs der Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen über Libyen völlig verschwunden. An ihre Stelle ist die Migrationskontrolle getreten. Es ist dringend notwendig, dass humanitäre Hilfe für Schutzsuchende in Libyen umfassender und transparenter geschieht. Die willkürliche Internierung muss sofort beendet werden. Es müssen dringend Unterkünfte eingerichtet werden, in denen Sicherheit und Hilfe garantiert werden können, während die Ausreise organisiert werden kann. Das kann nur funktionieren, wenn Europa die Rückführung derer, die auf dem Seeweg fliehen, einstellt und wenn sichere Länder mehr Plätze für die Aufnahme von Überlebenden des Alptraums von Libyen bereitstellen.
© Aurelie Baumel/MSF