Libyen: «Ich habe zweieinhalb Jahre vergeblich auf eine Evakuierung gewartet»
© Nicolas Guyonnet/MSF
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Wie die meisten eritreischen Geflüchteten und Asylsuchenden verliess John, heute 38, seine Heimat, um dem unbefristeten Militärdienst zu entkommen, der laut den Vereinten Nationen «Zwangsarbeit gleichkommt». Teams von Ärzte ohne Grenzen trafen ihn erstmals im Juni 2019 in einem libyschen Internierungslager, als er schwer krank und fest entschlossen war, nach Europa zu kommen. John erzählt, wie er fast drei Jahre in Libyen verbracht hat, wo er in vier verschiedenen Internierungszentren festgehalten wurde.
Das erste Mal, als ich das Mittelmeer überqueren wollte, war im Dezember 2017. Die Schmuggler hatten uns gewarnt: «Einige von euch reisen heute, die anderen morgen». Wir standen am Ufer und sahen zu, wie 180 Menschen ein Boot bestiegen, das später vor der libyschen Küste auseinanderbrach. Die Küstenwache brachte es ans Ufer zurück und einige der Insass:innen riefen uns zu: «Geht nicht aufs Meer, es ist zu gefährlich!» Zusammen mit 24 anderen Eritreer:innen ergriff ich die Flucht. Ein paar Tage später ging das Boot, das ich hätte nehmen sollen, unter. Achtzig Menschen ertranken. Das geschah kurz nach meiner Ankunft in Libyen.
Nach meiner Flucht aus Eritrea arbeitete ich zunächst im Sudan, um genügend Geld für die Reise durch die Sahara und dann über das Mittelmeer beisammen zu haben. Doch schon bald realisierte ich, dass das Meer gefährlich ist. Viele Migrant:innen starben und ich kriegte Angst. Gleichzeitig begann das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), Asylsuchende wie mich zu registrieren und einige nach Europa oder Nordamerika umzusiedeln. Da diese Registrierung hauptsächlich in Internierungslagern stattfand, beschloss ich, mich in einer solchen Anstalt in Tripoli einsperren zu lassen. Im März 2018 wurde ich registriert. Ich verbrachte sieben Monate in dieser Anstalt, dann brachen in Tripoli wieder Kämpfe aus. Wir wurden in ein anderes Internierungslager verlegt, an einem abgelegenen Ort in den Bergen bei Zintan.
Viele Häftlinge wurden krank. Ich hustete ununterbrochen. Damals wusste ich es noch nicht, aber ich hatte mich mit Tuberkulose angesteckt. Der Anstaltsleiter und Ärzt:innen einer internationalen Organisation wählten etwa 40 Gefangene aus und versprachen uns, dass wir in ein Spital in Tripoli gebracht werden würden. Stattdessen kamen wir nochmals in ein anderes Internierungslager und wurden mehrere Monate lang in einen Container eingesperrt. Acht von uns starben an der Krankheit. Während dieser Zeit, das war im April 2019, traf ich die Teams von Ärzte ohne Grenzen. Sie untersuchten uns und überwiesen uns in Spitäler.
Damals wartete ich noch immer darauf, dass mich das UNHCR kontaktieren würde, um mich aus Libyen wegzubringen. Ich wartete zwei Jahre und fünf Monate, aber nichts passierte. Warum in Libyen bleiben, wenn sich das UNHCR nicht bei mir meldete? Mit einer Überfahrt über das Mittelmeer riskiert man sein Leben – das Gleiche gilt aber auch, wenn man in Libyen bleibt.
Wenn Menschen die Überfahrt über das Meer wagen, bedeutet das, dass sie verzweifelt sind. Ich war verzweifelt. So entschied ich im November 2020, es erneut zu probieren. Zusammen mit hundert Migrant:innen bestieg ich ein Boot. Es gelang uns auf eigene Faust, die italienische Insel Lampedusa zu erreichen.
Viele meiner ehemaligen Weggefährten sitzen noch immer in Libyen fest. Zwei von den vierzig Auserwählten, die mit mir aus Zintan evakuiert wurden, starben in Tripoli an Tuberkulose. Zwei weitere werden im Mittelmeer vermisst. Ein Freund wurde von der libyischen Küstenwache festgenommen und erneut in ein Internierungslager eingesperrt. Dreien gelang die Überfahrt über das Meer wie mir. So viel ich weiss, wurden nur vier für das Umsiedlungsprogramm des UNHCR ausgewählt. So viele Menschen starben in Libyen in den drei Jahren, die ich dort verbracht habe. Ich bin heute in Sicherheit in Europa. Ich habe einen Job. Ich bin frei. Aber ich habe viel verloren, das ich nie zurückerhalten werde.
© Nicolas Guyonnet/MSF