Luftangriffe, Bodenoffensiven und Übergriffe: Gesundheitswesen in den besetzten palästinensischen Gebieten seit sieben Monaten unter Beschuss
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Palästinensische Autonomiegebiete10 Min.
Das Gesundheitssystem im Gazastreifen wurde in den letzten sieben Monaten systematisch vernichtet. Gemäss dem UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) sind mittlerweile 24 Spitäler im Gazastreifen nicht mehr funktionsfähig. 493 medizinische Kräfte wurden getötet. Medizinische Einrichtungen und humanitäre Hilfssysteme wurden und werden zerstört. Folglich muss improvisiert werden, was bei weitem nicht so effektiv ist. Der Kollaps des Gesundheitssystems hat auch indirekte Folgen: Wie viele Menschen werden sterben oder gesundheitliche Langzeitschäden davontragen, weil ihnen Hilfe und Behandlungen verwehrt werden? Mitarbeitende und Patient:innen von Ärzte ohne Grenzen mussten mittlerweile zwölf Gesundheitseinrichtungen verlassen und 26 Angriffe miterleben (im Schnitt 3,7 pro Monat).
Unter anderem wurden Spitäler durch Luftangriffe beschädigt, gekennzeichnete Schutzunterkünfte von Panzern beschossen, medizinische Einrichtungen Ziele von Bodenangriffen und Konvois von Geschossen getroffen. Bislang hat noch niemand die Verantwortung für die Tötung, Verstümmelung und Entmenschlichung unserer Mitarbeitenden und Patient:innen übernommen. Die vergangenen sieben Monate waren für die Gemeinschaften im Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel aus medizinischer und humanitärer Sicht verheerend. Die Gewalt und Übergriffe gegen Palästinenser:innen in Gaza und im Westjordanland haben allerdings schon lange vor dem 7. Oktober begonnen. Die seit 16 Jahren anhaltende Blockade des Gazastreifens durch Israel hatte bereits eine humanitäre Krise ausgelöst.
Am 6. Oktober 2023 leistete Ärzte ohne Grenzen medizinische und humanitäre Hilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten, und zwar in Hebron, Dschenin, Nablus, Masafer Yatta und im Gazastreifen. Unsere Teams kümmerten sich an diesem Tag um die Menschen in Gaza, die bei Protesten Tage bzw. Wochen vor Kriegsausbruch am 7. Oktober durch die Deformationsgeschosse israelischer Scharfschützen verwundet worden waren. Wir behandelten ausserdem 87 von ursprünglich fast 900 Patient:innen, die gesundheitliche Langzeitschäden davongetragen hatten, als der «Grosse Marsch der Rückkehr» 2018 und 2019 eskalierte.
Unsere Teams betreuten auch Menschen weiter, die während des bewaffneten Konflikts 2021 verletzt worden waren. Diesem vorangegangen war die Zwangsräumung und Enteignung palästinensischer Familien in Sheikh Jarrah in Ostjerusalem. Es handelte sich dabei um die grösste Eskalation seit 2014, infolge derer tausende Palästinenser:innen vertrieben, hunderte Menschen getötet und massive Zerstörungen angerichtet wurden.
Die Angriffe vom 7. Oktober und die daraus resultierende kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung haben unsere medizinische und humanitäre Arbeit in den besetzten palästinensischen Gebieten drastisch verändert. An diesem Tag wurden unsere Kolleg:innen Zeugen israelischer Luftangriffe auf Gaza, unmittelbar nachdem die Hamas bei ihrem Überfall über 1200 Menschen getötet und 253 Geiseln genommen hatte. Am 8. Oktober boten wir dem israelischen Gesundheitsministerium unsere Unterstützung an. Dieses schlug unser Hilfsangebot jedoch aus.
Unsere Teams in Gaza, deren Projektfokus auf orthopädischer und rekonstruktiver Chirurgie, Physiotherapie, der Behandlung von Verbrennungen, psychologischer Betreuung und der Forschung und Behandlung im Bereich mikrobieller Resistenz in Gaza lag, wussten nicht, wie es weitergehen würde. Wie konnten wir die Weiterbehandlung unserer Patient:innen sicherstellen und wie die bei dieser erneuten Eskalation verletzten Menschen versorgen?
Die zunehmende Missachtung der Prinzipien medizinischer und humanitärer Hilfe, die Zerstörung von medizinischen Einrichtungen und Personalunterkünften und die Ermordung unserer Kolleg:innen und Patient:innen machte es für uns fast unmöglich, den in Konfliktsituationen für unsere medizinische Hilfe nötigen Schutz auszuhandeln.
Im Folgenden haben wir eine Chronologie der Angriffe erstellt, die seit dem 7. Oktober in den besetzten palästinensischen Gebieten auf unsere und von uns unterstützte medizinische Einrichtungen und Ärzt:innen verübt wurden. Wenn klar festgestellt werden konnte, wer für diese Angriffe verantwortlich war, wird dies auch benannt. Oft können wir jedoch nicht mit Sicherheit sagen, wer hinter den Angriffen steckt.
Obwohl wir den Konfliktparteien in Gaza den Standort unserer und der von uns unterstützten medizinischen Einrichtungen, Unterkünfte und Bewegungen mitgeteilt hatten, wurden diese nicht respektiert und ihr Schutz nicht gewährleistet. Sie wurden bei Angriffen getroffen oder waren gar das Ziel von Angriffen. Dabei wurden zahlreiche Zivilpersonen getötet und verletzt.
- 7. Oktober: Unmittelbar nach dem Überfall der Hamas griffen israelische Streitkräfte das indonesische Spital in Beit Lahia und einen Rettungswagen vor dem Nasser-Spital in Khan Yunis an. Dabei starben eine Pflegekraft und die Person, die den Rettungswagen fuhr. Mehrere Menschen wurden verletzt.
- 10. Oktober: Bei einem israelischen Luftangriff wurde das Spital von Ärzte ohne Grenzen in Gaza-Stadt beschädigt. Personal und Patient:innen blieben unverletzt.
- 11. Oktober: Bei einem Luftangriff nahe des Al-Awda-Spitals in Dschabaliya, in dem wir seit 2018 tätig sind, stürzten infolge der Explosion einige Decken ein. Das Spital war jedoch noch strukturell intakt und konnte weiterbetrieben werden.
- 13. Oktober: Das israelische Militär rief zur Evakuierung des von uns unterstützten Al-Awda-Spitals auf und gab dem Spital dafür nur zwei Stunden Zeit. Unsere Kolleg:innen rollten die Patient:innen auf fahrbaren Tragen auf die Strasse, um sie in andere Spitäler zu verlegen. Dies gestaltete sich jedoch als sehr schwierig. Ärzte ohne Grenzen verurteilte den Evakuierungsaufruf aufs Schärfste und appellierte, medizinisches Personal und Patient:innen zu schützen. Schliesslich blieben das Personal und die Patient:innen im Spital.
- 17. Oktober: Bei einem Angriff in Gaza-Stadt wurde der Parkplatz des Al-Ahli-Arab-Spitals getroffen, wo gerade einer unserer Ärzte operierte. Dabei kamen hunderte Menschen ums Leben. In den Tagen vor diesem Angriff hatte der Spitalleiter Warnungen von Israel erhalten. Ärzte ohne Grenzen verurteilte diesen Angriff aufs Schärfste und machte zunächst Israel dafür verantwortlich. Jedoch ist bis heute ungeklärt, wer tatsächlich die Verantwortung trägt. Nur eine unabhängige Untersuchung kann Aufschluss darüber geben.
- 30. Oktober: Das von uns unterstützte türkisch-palästinensische Freundschaftsspital im Süden von Gaza-Stadt wurde durch ein Geschoss beschädigt. Am 1. November musste der Betrieb wegen Treibstoffmangels eingestellt werden.
- 3. November: Bei einem israelischen Luftangriff in der Nähe des Al-Shifa-Spitals in Gaza-Stadt wurde ein Rettungswagen-Konvoi getroffen. Zahlreiche Menschen wurden dabei getötet. Ärzte ohne Grenzen verurteilte diesen Angriff aufs Schärfste.
- 15. November: Israelische Bodentruppen stürmten das Al-Shifa-Spital. All unsere Mitarbeitenden hatten das Spital bereits eine Woche zuvor verlassen.
- 18. November: Ein Konvoi von Ärzte ohne Grenzen, der Mitarbeitende und ihre Familien evakuieren wollte, geriet unter Beschuss. Dabei wurden zwei Personen, darunter einer unserer Mitarbeitenden, getötet. Alles deutet darauf hin, dass die israelische Armee dafür die Verantwortung trägt. Zwei Tage später zerstörten ein israelischer Bulldozer und schwere Militärfahrzeuge unsere Konvoi-Fahrzeuge – vor den Augen unserer Mitarbeitenden, die in unserem Gästehaus in Gaza-Stadt untergekommen waren. Die Militärfahrzeuge rammten auch eine Mauer unseres Spitals. Sie stürzte infolgedessen ein, und ein Teil des Gebäudes fing Feuer.
- 21. November: Bei einem Angriff auf das Al-Awda-Spital wurden unsere zwei Mitarbeitenden Dr. Mahmoud Abu Nujaila und Dr. Ahmad Al-Sahar sowie Dr. Ziad Al-Tatari getötet. Wir sprachen mit allen Konfliktparteien, um herauszufinden, wer die Verantwortung für diesen Angriff trägt. Es bekannte sich jedoch niemand dazu, weshalb wir auch nicht mit Sicherheit sagen können, was sich genau zugetragen hat. Wir fordern eine unabhängige Untersuchung, die Aufschluss darüber gibt.
- 24. November: Da die Fahrzeuge unserer Mitarbeitenden und ihrer Familienangehörigen, die sich in der Unterkunft und der Klinik von Ärzte ohne Grenzen in Gaza-Stadt aufhielten, zerstört worden waren, schickten unsere Teams im südlichen Gazastreifen weitere Fahrzeuge nach Gaza-Stadt. Diese gerieten unter Beschuss, als sie sich unserer Klinik näherten, und der Evakuierungsversuch musste abgebrochen werden. In den frühen Morgenstunden des 24. November wurden diese Fahrzeuge ebenfalls von israelischen Streitkräften zerstört.
- 1. Dezember: Israel und die Hamas hatten sich auf einen vorübergehenden Waffenstillstand vom 24. bis 30. November 2023 geeinigt. Nur wenige Stunden nach dem Ende der Feuerpause wurde das Al-Awda-Spital durch eine Explosion beschädigt.
- 5. Dezember: Unsere Teams in Al-Awda berichteten, dass das Spital komplett von der israelischen Armee belagert wurde. In den darauffolgenden Tagen wurden zwei medizinische Mitarbeitende des Spitals (keine MSF-Mitarbeitenden) von Scharfschützen erschossen.
- 12. Dezember: Einer unserer Chirurgen wurde im Al-Awda-Spital von einer Kugel getroffen, die ausserhalb des Gebäudes abgefeuert wurde.
- 14. Dezember: Unsere Mitarbeitenden, die das Khalil-Suleiman-Spital in Dschenin im Westjordanland unterstützten, wurden Zeugen davon, wie israelische Streitkräfte einen Teenager auf dem Spitalgelände erschossen. Zuvor hatten sie paramedizinisches Personal misshandelt, indem sie es zwangen, sich auf offener Strasse auszuziehen und hinzuknien.
- 17. Dezember: Die israelische Armee übernahm die Kontrolle über das Al-Awda-Spital, nachdem sie dieses zwölf Tage lang belagert hatte. Männer über 16 Jahre wurden aus dem Spital geholt, einer Leibesvisite unterzogen und befragt, unter ihnen auch sechs Mitarbeiter aus unserem Team. Nach der Befragung wurden die meisten ins Spital zurückgeschickt, wo sie sich nicht mehr bewegen durften. Am selben Tag schlugen israelische Leuchtspurgeschosse in die Entbindungsstation des Nasser-Spitals ein. Dabei starb eine Patientin, weitere Personen wurden verletzt.
- 6. Januar: Da die Kämpfe zwischen der israelischen Armee und den bewaffneten palästinensischen Gruppen immer näher rückten, sah sich Ärzte ohne Grenzen gezwungen, das Al-Aqsa-Spital in Deir al-Balah zu evakuieren. Durch die israelischen Evakuierungsbefehle befand sich unsere Spitalapotheke nunmehr in der Sperrzone und war unzugänglich geworden. Am 5. Januar hatte bereits eine Kugel die Wand der Intensivstation durchdrungen.
- 8. Januar: Eine israelische Panzergranate durchschlug die Wand unserer «Lotus»-Unterkunft in Khan Yunis. Dabei starb die fünfjährige Tochter eines unserer Mitarbeitenden, drei Personen wurden verletzt. Unsere über 125 Mitarbeitenden und ihre Familienangehörigen, die sich dort aufhielten, wurden anschliessend nach Rafah gebracht.
- 22. Januar: Die Evakuierungsbefehle, Kämpfe und Bombardierungen rund um das Nasser-Spital in Khan Yunis gefährdeten die Gesundheitsversorgung. Nur 150 Meter vom Spitaleingang entfernt wurden laut unseren Mitarbeitenden Menschen durch Luftangriffe getötet.
- 15. Februar: Eine Granate schlug in die orthopädische Abteilung des Nasser-Spitals ein. Die Mitarbeitenden mussten fliehen und mehrere Patient:innen zurücklassen. Einer unserer Mitarbeitenden wurde an einem von den israelischen Streitkräften eingerichteten Kontrollposten festgehalten. Inzwischen wurde er wieder freigelassen.
- 20. Februar: Ein israelischer Panzer schoss auf eine unserer Unterkünfte in Al-Mawasi in Khan Yunis. Dabei wurden die Schwiegertochter und die Frau eines Kollegen getötet. Sieben Personen wurden verletzt.
- 2. März: Bei einem Angriff schlug eine Granate neben dem Haupteingang des von uns unterstützten Al-Emirati-Spitals in Rafah ein. Dabei wurden zwei Menschen getötet und etliche weitere verletzt.
- 13. März: Die israelische Armee führte militärische Operationen in Dschenin im Westjordanland durch. Dabei wurde auf Personen geschossen, die im Hof des von uns unterstützten Khalil-Suleiman-Spitals standen. Sechs Menschen wurden verletzt, zwei von ihnen erlagen später ihren schweren Verletzungen.
- 27. März: Obwohl der UNO-Sicherheitsrat am 25. März eine Resolution verabschiedet hatte, die einen sofortigen Waffenstillstand forderte, gingen die Kämpfe weiter. Am 27. März wurde bei einem Luftangriff ein Gewächshaus in der Nähe der von uns unterstützten Al-Shaboura-Klinik in Rafah getroffen. Dabei kamen mehrere Menschen ums Leben. MSF-Mitarbeitende und Patient:innen wurden nicht verletzt.
- 31. März: Bei einem israelischen Luftangriff wurde der Hof des von uns unterstützten Al-Aqsa-Spitals direkt neben der Notaufnahme getroffen, wo viele vertriebene Menschen untergekommen waren. Dabei wurden zahlreiche Menschen getötet und verletzt. Nach dem Angriff musste ein Teil unseres Teams seine Arbeit einstellen.
- 1. April: Nach einem 14-tägigen Einsatz der israelischen Armee im und um das Al-Shifa-Spital lag die Einrichtung in Trümmern und ist nicht mehr funktionsfähig. Eine Klinik von Ärzte ohne Grenzen in der Nähe des Al-Shifa-Spitals wurde ebenfalls stark beschädigt. Hunderte Menschen wurden getötet, unter ihnen medizinisches Personal. Im und um das Spital herum kam es zu Massenverhaftungen von medizinischen Kräften und anderen Personen.
- 21. April: Einem von uns ausgebildeten freiwilligen paramedizinischen Mitarbeiter wurde bei einem drei Tage andauernden Angriff auf das Flüchtlingslager Nur Shams in Tulkarem im Westjordanland ins Bein geschossen. Aufgrund der Kämpfe erreichte er das Spital erst nach sieben Stunden.
- 6. Mai: Bei einem brutalen Überfall der israelischen Streitkräfte in Tulkarem und im Flüchtlingslager Nur Shams im Westjordanland wurde eine von uns unterstützte Stabilisierungsstation gestürmt. Von uns ausgebildetes freiwilliges paramedizinisches Personal wurden belästigt und fühlten sich nicht mehr sicher genug, um lebensrettende medizinische Hilfe zu leisten.
Seit dem 6. Mai hat die israelische Armee eine Offensive auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens sowie auf nördliche Teile des Gazastreifens begonnen und mehrere Evakuierungsbefehle erlassen. Dadurch wird der Zugang zu medizinischer Versorgung in einem fast vollständig zusammengebrochenen Gesundheitssystem noch weiter eingeschränkt. Selbst die medizinische Grundversorgung der Menschen ist damit kaum noch garantiert. Zwischen dem 6. und 12. Mai mussten wir unsere Aktivitäten in der Al-Shaboura-Klinik einstellen, unsere Tätigkeit im Al-Emirati-Spital abgeben und uns aus dem indonesischen Feldspital in Rafah zurückziehen, da wir die Sicherheit unserer Patient:innen und Mitarbeitenden aufgrund der laufenden Offensive nicht mehr garantieren konnten.
Angesichts all dieser furchtbaren Taten appellieren wir wiederholt an alle Kriegsparteien, Gesundheitseinrichtungen, medizinisches Personal und Patient:innen in Gaza und im Westjordanland zu respektieren und zu schützen. Es braucht einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand, um das Leiden der Menschen und die Zerstörung des Gazastreifens zu beenden. Wir fordern einen sofortigen ungehinderten Zugang für humanitäre Unterstützung und Hilfslieferungen in den kompletten Gazastreifen. Und wir verlangen die Übernahme von Verantwortung für die Tötung und Verletzung unserer Kolleg:innen, ihrer Familienangehörigen und unserer Patient:innen.
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