Nordwestsyrien: Covid-19 verschärft die bereits katastrophale Situation

Luftaufnahme des Lagers Abo Obeidah in Deir Hassan, Nordwestsyrien.

Syrien4 Min.

Der jahrelange Krieg in Syrien hat das Gesundheitssystem geschwächt, über 80 Spitäler mussten allein in der Region Idlib schliessen. Innerhalb weniger Monate wurden fast eine Million Menschen vertrieben. Letzte Woche bestätigte Syrien nun den ersten Covid-19-Fall. Cristian Reynders, Einsatzkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Nordwestsyrien, schildert die Lage.

«Es ist noch nicht lange her, da bestimmten andere Themen die Nachrichten als COVID-19. Einige betrafen die humanitäre Situation in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Die Covid-19-Pandemie hat einer bereits katastrophalen Situation eine weitere Ebene der Komplexität hinzugefügt.

Wir sehen, wie selbst in industrialisierten Ländern wie Italien, Spanien und den USA öffentliche Spitäler wegen der Verbreitung von Covid-19 überfordert sind. Wie wird es erst in Idlib sein? Das Gesundheitswesen in Nordwestsyrien war bereits vor der Ausbreitung des Coronavirus an seine Grenzen gestossen.

Schutzmassnahmen in Idlib nicht umsetzbar

Dazu kommt, dass die meisten Empfehlungen zum Schutz der Menschen vor dem Virus und zur Verlangsamung seiner Ausbreitung in Idlib nicht umgesetzt werden können.

Wie kann man diese Menschen bitten, zu Hause zu bleiben? Wo ist überhaupt ihr Zuhause? Wir sprechen von fast einer Million Vertriebener. Die meisten von ihnen leben in Zelten in Lagern. Sie haben kein Zuhause mehr.

Cristian Reynders, Einsatzkoordinator in Nordwestsyrien

Wenn eine Person Symptome von Covid-19 zeigt, wird sie gebeten, sich selbst zu isolieren. Wo ist der Platz dafür in Idlib? Viele Familien müssen ihre Zelte mit anderen Familien teilen. Die Menschen werden auch dazu aufgefordert, gute Hygienemassnahmen einzuhalten und sich häufig die Hände zu waschen. Aber wie kann man sich so hygienisch verhalten, wenn man inmitten von Dreck lebt?

Wenn man ernsthafte Symptome entwickelt, soll man in ein Spital gehen. Aber wenn nur eine Handvoll Krankenhäuser geöffnet sind und diese bereits überlastet und für einen öffentlichen Gesundheitsnotfall völlig unvorbereitet sind, wo soll man dann hingehen?

Das medizinische Personal in Idlib tut sein Bestes mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Ich bin sehr beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit, dem Engagement und der Fähigkeit der Mitarbeitenden, unter diesen unglaublichen Bedingungen weiter zu arbeiten.

Dilemma für Hilfsorganisationen: Arbeit einstellen, um Menschen vor Ansteckung zu schützen?

Auch humanitäre Organisationen müssen unter diesen Umständen unmögliche Entscheidungen treffen. Sollten wir unsere Arbeit in den Lagern einstellen, um zu verhindern, dass sich Menschen vor unseren mobilen Kliniken oder bei der Verteilung von Hilfsgütern versammeln? Schützen wir die Menschen, wenn wir unsere Arbeit einstellen, oder entziehen wir ihnen wesentliche Dienste und gefährden damit möglicherweise ihre Gesundheit?

Die Entscheidung, die Ärzte ohne Grenzen getroffen hat, besteht darin, unsere Aktivitäten am Laufen zu halten. Denn wir wissen, dass unsere Hilfe für Zehntausende von Menschen in Idlib lebenswichtig ist. Auch weil mehr als 35 Prozent der Patient*innen, die wir in unseren mobilen Kliniken behandeln, bereits an Atemwegsinfektionen leiden und das Virus schnell zu Komplikationen führen könnte. Aber wir passen unsere Aktivitäten an und versuchen, angesichts einer möglichen Verbreitung von Covid-19 verantwortungsvoll zu handeln.

Abstand bei Hilfsgüterverteilungen

In den Lagern haben wir damit angefangen, bei unserer Arbeit Massnahmen zur sozialen Distanzierung umzusetzen. Bei unseren mobilen Kliniken erlauben wir jetzt nur noch kleine Gruppen von Menschen, die sich um unsere Lastwagen versammeln, während sie auf eine Konsultation warten. Bei der Verteilung von Versorgungsgütern bitten wir die Menschen, einen gewissen Abstand einzuhalten. Auf diese Weise helfen wir den Vertriebenen weiterhin, verringern aber auch das Risiko, dass sie sich mit dem Virus anstecken. Natürlich wollen wir auch unsere eigenen Teams schützen und haben sie mit der nötigen Schutzausrüstung ausgestattet, damit sie weiterhin in den Lagern arbeiten können.

Wir haben zudem in drei von uns unterstützten Spitälern neue Triage-Systeme eingerichtet, um verdächtige Covid-19-Patient*innen besser identifizieren und isolieren zu können. Daneben führen wir Schulungen zum Patientenfluss-Management durch.

Die Lage im Nordwesten Syriens ist bereits eine humanitäre Notlage. Eine zusätzliche öffentliche Gesundheitskrise könnte schnell katastrophal enden.

Cristian Reynders, Einsatzkoordinator in Nordwestsyrien

Wir setzen alles in Bewegung, was möglich ist, doch bei einer Ausbreitung von Covid-19 wird das wahrscheinlich nicht ausreichen. Es sei denn ...

Grenzenlose Solidarität gefragt

... es sei denn, es gibt eine sofortige internationale Mobilisierung. Es sei denn, den Ärzt*innen und humanitären Organisationen werden die Mittel zur Verfügung gestellt, um diese potentielle Katastrophe richtig anzugehen, bevor sie eintritt. Es sei denn, die Spitäler erhalten die notwendigen Vorräte und Ausrüstungen, um dieser zusätzlichen Krise zu begegnen.

Und es geht um mehr als die Gesundheitsversorgung, auch wenn diese ausschlaggebend ist.

Die Menschen brauchen immer noch Nahrungsmittel, Unterkünfte, sanitäre Einrichtungen. Wenn man einer Pandemie gegenübersteht, sind all diese Dinge von entscheidender Bedeutung.

Cristian Reynders, Einsatzkoordinator in Nordwestsyrien

Covid-19 betrifft alle. Egal ob die Menschen in Syrien oder in Italien sind – sie sind alle miteinander verbunden. Dieses Virus betrifft jeden, unabhängig von seiner Nationalität oder Hautfarbe. Und genau so wie dieses Virus keine Grenzen hat, so hoffe ich, dass auch die Solidarität keine Grenzen hat.»