Polen: «Wir wollen nicht, dass Menschen im Wald sterben»
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Da Hilfsorganisationen und Freiwilligengruppen der Zugang zur polnischen Seite des polnisch- belarussischen Grenzgebiets verwehrt wird, können nur Bewohner des Sperrgebiets und Umgebung die Bedürftigen erreichen. Doch diese Hilfeleistung ist offiziell verboten. Den in der Kälte festsitzenden Frauen, Kindern und Männern zu helfen, ist zu einem illegalen und gefährlichen Unterfangen geworden.
Nachdem die Behörden Ärzte ohne Grenzen monatelang daran hinderten, die Sperrzone zu betreten, beschloss die Organisation, sich zurückzuziehen. Wir möchten von den Sorgen derjenigen berichten, die noch vor Ort sind, um den Menschen in Not zu helfen, die sich unter extremen Bedingungen im Wald verstecken. Hier sind die Berichte einiger Menschen, mit denen wir gesprochen haben:
Wie hat sich Ihr Leben seit Beginn der aktuellen Situation an der Grenze verändert?
«Die grösste Veränderung war, als die Menschen in unserem Viertel auftauchten. Davor hatten wir nur gehört, dass Menschen die Grenze überquert hatten und Fotos gesehen, denn sie konnten unsere Gegend nicht durchqueren – wir sind umgeben von Sumpfgebieten. Aber ich fürchte, dass in diesen Sümpfen einige Leichen liegen.
Dann wurde der Ausnahmezustand verhängt. Ich wohne ausserhalb der Sperrzone, aber ganz in der Nähe des Gebiets, ich habe das Gebiet also oft durchquert. Für meine Freunde, die innerhalb der Zone leben, ist es aber viel schwieriger, weil sie ständig auf bewaffnete Soldaten treffen. Die Kinder haben oft Angst.»
Zosia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Grenzregion
«Unser Leben hat sich in vielerlei Hinsicht verändert: unruhige Nächte, Anspannung, Angst, wegen unserer Hilfe für Geflüchtete des Menschenhandels und -schmuggels bezichtigt zu werden, Angst, dass sich rechte Kreise an uns Helfenden rächen könnten. Die Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, sodass normaler Tourismus unmöglich ist. Trotz allem sind wir in unserer Familie enger zusammengerückt. Wir reden viel darüber, ich bin wütend und niedergeschlagen, aber ich habe Unterstützung von meiner Frau, und unser ältester Sohn kommt nun öfter vorbei.»
Marek*, Bewohner eines Dorfes in der Sperrzone
«Wenn man morgens die Fenster öffnet, sieht man schweres Gerät. Es ist bedrückend; wir müssen immer unsere Dokumente bei uns haben, selbst wenn wir nur mit dem Hund spazieren gehen. Alle Hotels, Herbergen und Gästezimmer sind vom Militär besetzt. Auch, dass wir keine Gäste, Familie oder Freunde einladen können, ist schwierig. Es ist schwer, wenn man vom Rest des Landes isoliert ist.»
Sylwia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Sperrzone
Haben Sie oder jemand, den Sie kennen, Probleme bekommen, als Sie Menschen auf der Flucht halfen?
«Ich habe einer Gruppe von Menschen in sehr schlechter Verfassung geholfen, und wir haben eine Ambulanz gerufen. Wir wussten natürlich, dass Grenzsoldaten dabei sein würden, aber es war unmöglich für uns, diese Menschen [ohne medizinische Versorgung] allein zu lassen. Wir kennen die Haltung der Grenzsoldaten gegenüber Migranten. Die Grenzsoldaten, die mit der Ambulanz kamen, trugen keine Abzeichen oder sie hatten sie versteckt. Sie begannen uns zu bedrohen. Sie sagten, dass wir illegal hier seien, dass wir Menschenschmuggler seien. Sie waren auch sehr feindselig gegenüber den Geflüchteten. Wir hatten das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Wir hatten Angst – nicht um uns selbst, sondern um diese Menschen, dass man sie wieder in den Wald drängen würde.»
Zosia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Grenzregion
«Einige Leute haben Probleme bekommen, weil sie Menschen auf der Flucht unterstützt haben. Einmal wurde ich beschuldigt, ‹Terroristen zu unterstützen› und ‹zum Nachteil des polnischen Staates zu handeln›. Jemand wurde im Wald von uniformierten Polizisten festgenommen und verhört. Das Haus von jemand anderem wurde mit Eiern beworfen. Ausserhalb der Zone versammelten sich rechte Aktivisten vor einem Haus, in dem Geflüchteten geholfen wurde, um sie einzuschüchtern, aber zum Glück haben sie niemanden verprügelt. Sie haben nur versucht, sie einzuschüchtern.»
Marek*, Bewohner eines Dorfes in der Sperrzone
«Meine Familie wurde verbal angegriffen [weil wir geholfen haben] – sie sagten, wir würden dem polnischen Staat schaden. Am Anfang versuchten sie uns einzuschüchtern, indem sie sagten, dass es illegal sei, zu helfen. [...] Die Ideologie mancher Leute ist es, die ‹die Grenzen ihres Heimatlandes zu verteidigen›. Sie sind für den Schutz durch die Soldaten und glauben, dass die Menschen im Wald Kriminelle sind.»
Sylwia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Sperrzone
Dass Freiwillige vor Ort beschimpft und eingeschüchtert werden, um sie davon abzuhalten, zu helfen, ist völlig inakzeptabel.
Sie haben Menschen auf der Flucht lebenswichtige Güter gegeben. Unterstützen die Menschen in Ihrer Gemeinde das?
«Die Menschen in meinem Dorf wissen durch Mundpropaganda, was wir tun. Wir sprechen nicht darüber, und ich kann mir vorstellen, was sie darüber denken. Auf der anderen Seite haben wir unglaubliche Unterstützung von unseren Freunden bekommen. Viele von ihnen sind hierher gekommen, um uns zu helfen. Viele sind mit uns in den Wald gegangen, um den Menschen, die dort festsitzen, Dinge zu bringen. Das ist für mich sehr wichtig, denn so habe ich das Gefühl, nicht allein zu sein. Ich tue es nicht allein, sondern im Namen einer wirklich grossen Gruppe von Menschen.»
Zosia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Grenzregion
«Mich hat überrascht, dass die Familie, mit der wir Weihnachten verbracht haben, uns nicht einmal nach der Situation an der Grenze gefragt hat. Die Leute scheuen sich davor, sie wollen nichts davon wissen. Sie hatten die Möglichkeit, uns, die wir in einer Sperrzone leben, zu fragen, aber es hat niemanden interessiert.»
Marek*, Bewohner eines Dorfes in der Sperrzone
«Die Gemeinschaft ist wieder einmal gespalten: in diejenigen, die mit der Grenzverteidigung zufrieden sind, und diejenigen, die nicht gleichgültig bleiben können. Das Militär möchte, dass niemand über irgendetwas redet und dass alle still dasitzen und so tun, als ob sie nichts sehen.»
Sylwia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Sperrzone
Verstehen die Kinder, was vor sich geht? Verstehen sie, warum so viele Sicherheitskräfte in ihrem Dorf sind?
«Ich glaube nicht, dass meine Tochter alles versteht. Einmal kam sie aus dem Kindergarten zurück und erzählte uns, dass wir den Soldaten helfen sollten, dass die Geflüchteten Steine in Richtung ihres Kindergartens werfen würden und dass sie schlechte Menschen seien. Mein Mann hat versucht, ihr zu erklären, dass das nicht stimmt, aber sie wollte nicht auf ihn hören. Also musste ich ihr viele Dinge erzählen, die ich ihr sonst nicht erzählt hätte. Denn ich bin mir nicht sicher, dass ein kleines Mädchen wissen sollte, dass es Kinder gibt, die im Wald leben müssen. Ich musste es ihr sagen, weil sie mir viele Fragen stellte.
Meine Tochter hat keine Angst vor Soldaten, ich glaube, mein 11-jähriger Sohn hat damit mehr Probleme. Auch er hat in der Schule viele schreckliche Dinge gehört. Er versteht mehr und so fällt es ihm schwerer, uns über Leichen sprechen zu hören. Aber es ist unmöglich für ihn, all diese Dinge nicht zu hören, da er wir in einem kleinen Haus leben, in das viele Aktivisten kommen. Er ist wie ein kleiner Erwachsener, er versteht eine Menge.»
Zosia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Grenzregion
«Ich habe selbst keine kleinen Kinder, aber ich höre von anderen Kindern, die Checkpoints und Panzer zeichnen. Ich sehe Spielplätze, die durch das Militär zerstört wurden, und Militärfahrzeuge, die direkt neben Schulen und Kindergärten geparkt sind. Einem Freund von mir, einem jungen Vater, fällt es sehr schwer, seinen Kindern zu erklären, was vor sich geht. Er hat die Theorie, dass wir an dem Trauma unserer Kinder schuld sind, weil wir sie vielleicht nicht genug geschützt haben. Aber ich frage mich, wie wir das hätten besser machen können, bei all dem, was hier passiert ...»
Sylwia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Sperrzone
Bekommen Sie und die Menschen in den Dörfern innerhalb der Sperrzone psychologische Unterstützung, um mit dieser Situation fertig zu werden?
«Mein Sohn spricht mit einem Psychologen. Er war zweimal dort, und obwohl er nicht viel darüber spricht, denke ich, dass es ihm gut tut, diese Unterstützung zu bekommen. Es ist kostenlos und einfach zu organisieren, sowohl für uns als auch die Kinder.»
Zosia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Grenzregion
«Ich kenne mehrere Menschen, die traumatisiert waren, als sie sahen, wie sich Familien im Gebüsch versteckten, wie sie von Grenzsoldaten gefangen genommen wurden und später herausfanden, dass sie wieder hinter den Drahtzaun gebracht worden waren ... Menschen, die mit der Grupa Granica (Grenzgruppe) zusammenarbeiten, haben Zugang zu kostenloser psychologischer Unterstützung. Die Grenzgruppe hilft den Freiwilligen in der Region. Ohne sie wäre die Situation sehr schwierig.»
Marek*, Bewohner eines Dorfes in der Sperrzone
«Es gab keine systematische Unterstützung von Seiten der Gemeinde – weder informative noch psychologische ... Es gab Treffen mit Psychologen ausserhalb der Zone - Gruppen- und sogar Einzelsitzungen. Das Angebot wurde in Facebook-Posts weitergegeben, eine Liste von Psychologen und Psychiatern, die bereit sind, Menschen mit psychischem Stress zu helfen.»
Sylwia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Sperrzone
Was muss Ihrer Meinung nach getan werden?
«Das Wichtigste ist, dass die Regierung damit aufhört, die Menschen wieder zurück nach Belarus zu drängen. Und sie muss das Gesetz ändern und endlich aufwachen. Die Menschen müssen anfangen, darüber nachzudenken, was hier vor sich geht. Und wir brauchen grosse Organisationen, die trotz des geltenden Gesetzes in die Zone kommen. Es ist ungeheuerlich, dass Organisationen die Auflagen akzeptieren. Es ist gegen das Gesetz, Menschen im Wald sterben zu lassen.»
Zosia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Grenzregion
«Wir brauchen eine Entscheidung der Regierung und des Grenzschutzes, die es ermöglicht, den Bedürftigen medizinische und juristische Hilfe zukommen zu lassen, in Übereinstimmung mit anerkannten Standards und unter Achtung der Menschenrechte. Wir wollen auch ein Ende der Bewegungseinschränkungen für die Anwohner sowie ein Ende der extremen Militarisierung im Grenzgebiet.»
Marek*, Bewohner eines Dorfes im Grenzgebiet
«Wir wollen, dass die Pushbacks aufhören. Wir hoffen, dass sich die Befehle von oben ändern und dass die Menschen nicht in den Wald gedrängt werden. Wir brauchen professionelle Hilfe von Organisationen, z. B. von medizinischen Organisationen – und auch von den Medien.»
Sylwia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Sperrzone
«Ich möchte allen Menschen danken, die uns unterstützen. Jede einzelne Person, die uns etwas schickt, ist Teil dieses grossen Hilfsnetzwerks, und nur gemeinsam können wir so viel tun, wie wir tun.»
Zosia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Grenzregion
«Wir wollen nicht, dass die Menschen im Wald sterben. Wir wollen nicht, dass sie hinter unserem Zaun sterben. Wir wollen Menschen in Not helfen, egal woher sie kommen. Wir sind mit bestimmten Werten aufgewachsen, und wir müssen nach diesen Werten leben – und den Bedürftigen helfen.»
Marek*, Bewohner eines Dorfes in der Sperrzone
«Wir brauchen einen humanitären Korridor, wir brauchen Unterstützung, um die Menschen zu Hause und in der ganzen Welt darüber zu informieren, was wirklich passiert. Die Macht- und Befehlshaber müssen die Migranten als Menschen – als Menschen in Not – sehen und ihnen Würde und Respekt entgegenbringen.»
Sylwia*, Bewohnerin eines Dorfes in der Sperrzone
*Namen wurden zum Schutz der Identität geändert.
© Maciej Moskwa/Testigo