Sichere Schwangerschaftsabbrüche: Zentrales Element für die Gesundheit von Frauen

Illustration zum Thema Schwangerschaftsabbruch.

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Ein wichtiges Ziel von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) ist es, in ihren Einsatzgebieten die Müttersterblichkeit zu senken. Dazu bietet die Organisation in mehreren Projekten auch sichere Schwangerschaftsabbrüche an – bisweilen ein hürdenreiches Unterfangen. Wir haben unsere Anstrengungen in diesem Bereich intensiviert, damit möglichst viele Frauen Zugang zu einem fachgerecht durchgeführten Schwangerschaftsabbruch haben. Mit deutlichen Auswirkungen: Führten unsere Teams 2015 noch rund 74 Abbrüche in fünf Ländern durch, waren es 2021 fast 35'000 in 33 Ländern.

Nicht professionell durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche sind für Millionen von Frauen und Mädchen ein grosses Gesundheitsrisiko. Auch 2022 noch:

  • 45 Prozent aller Abtreibungen weltweit finden unter gefährlichen Bedingungen, ohne medizinische Aufsicht, statt.
  • Mindestens jeder 12. mütterliche Todesfall ist auf eine nicht fachgerecht durchgeführte Abtreibung zurückzuführen.
  • 97 Prozent aller nicht fachgerecht durchgeführten Abtreibungen finden in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas, Süd- und Vorderasiens statt.

Asha*, leitende Hebamme aus Ostafrika, hat von 2003 bis 2021 für uns gearbeitet und viel zu unseren Bemühungen im Bereich sichere Schwangerschaftsabbrüche beigetragen. Sie schildert hier, was in diesen knapp zwei Jahrzehnten die grössten Herausforderungen waren und welche Fortschritte sie beobachten konnte.


2003: Erste Hürde Ausbildung

«Als ich 2003 meine Stelle als Hebamme bei Ärzte ohne Grenzen begann, war ich für die Geburten und die Neugeborenenpflege zuständig. Bald stellte ich fest, dass auch ein riesiger Bedarf im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen bestand. Jedes Mal, wenn dieser Eingriff benötigt wurde, wollte ich helfen. Doch ich verfügte weder über eine Ausbildung noch über Erfahrung darin. Das war eine sehr unbefriedigende Situation für mich.

In meinem Heimatland in Ostafrika waren für diesen Teil der Gesundheitsversorgung immer die Ärzte zuständig gewesen. Doch die Dinge änderten sich allmählich. Als ich nach meinem ersten Einsatz für Ärzte ohne Grenzen nach Hause kam, besuchte ich das Gesundheitszentrum, in dem ich gearbeitet hatte und stellte fest, dass sich nun auch Hebammen um Abtreibungen kümmerten. Ich hatte das Gefühl, hinterherzuhinken.

2004 erfuhr ich, dass es bei Ärzte ohne Grenzen eine neue Richtlinie gab, die es Hebammen erlaubte, eine Abtreibung vorzunehmen, wenn das Leben der Mutter in Gefahr war oder das Risiko für Verletzungen durch eine nicht fachgerecht durchgeführte Abtreibung bestand. Ich war beeindruckt und sagte mir: Das muss ich auch machen. Aber noch hatte ich keine Ausbildung.

Da Abtreibung in Zentralafrika, wo ich arbeitete, und in vielen Einsatzländern von Ärzte ohne Grenzen ein Tabu war, wurde dieser Eingriff nur selten explizit gewünscht. Aber ich wusste, dass viele Frauen im Stillen litten, denn ich behandelte sie wegen Komplikationen, die sie sich bei unprofessionell vorgenommenen Abtreibungen zugezogen hatten. Dazu gehörten Blutvergiftung oder innere Blutungen, die auch zu schwerer Blutarmut führen können. Ich erinnere mich nur zu gut an eine verstorbene Patientin, die fünf kleine Kinder zurückliess.»


2009: Interne Hindernisse

«2009 konnte ich endlich eine Ausbildung zu sexueller und reproduktiver Gesundheit von Ärzte ohne Grenzen in den Niederlanden absolvieren. Dort lernte ich, einen medikamentösen Abbruch und eine Absaugung durchzuführen. Die erste, weitgehend risikolose Methode kommt in den Projekten von Ärzte ohne Grenzen am meisten zum Einsatz. Das war sehr nützlich für mich und so konnte ich nun selbst sichere Abtreibungen anbieten.

Bereit, meine neu erworbenen Fähigkeiten anzuwenden, startete ich meinen nächsten Einsatz in Westafrika. Doch dort stellte sich mir schon bald ein neues Hindernis in den Weg: mein eigenes Team. Meine Kollegen waren mit der Abtreibungspolitik von Ärzte ohne Grenzen noch nicht vertraut. Sie begegneten dem Thema mit Misstrauen und dachten an die Konsequenzen: Was bedeutet das für die Familie? Für die Gemeinschaft? Könnte es möglicherweise das Projekt gefährden?

Bei fehlendem Wissen über Schwangerschaftsabbrüche taucht häufig die Frage auf: Was, wenn die Patientin stirbt? Hört man Geschichten von Frauen, die nach einer Abtreibung gestorben sind, ist das meist den Umständen geschuldet. Zum Beispiel wenn eine nicht dazu ausgebildete Person eine gefährliche und invasive Methode anwendet. Unsichere Schwangerschaftsabbrüche sind eine der Hauptursachen für die Müttersterblichkeit. Doch das muss nicht sein.

Zum Glück erhält man bei Ärzte ohne Grenzen Gehör. Als ich den Beraterinnen für Frauengesundheit mitteilte, dass einige Mitarbeitende gegen Schwangerschaftsabbrüche opponierten, waren sie ziemlich erstaunt. In den folgenden Jahren hat sich Ärzte ohne Grenzen bemüht, solche internen Bedenken besser zu verstehen und auszuräumen, so dass wir in den Projekten konsequent sichere Schwangerschaftsabbrüche anbieten konnten.»


2017: Werte und Einstellungen

«Einige Jahre später nahm ich an einem Workshop zum Thema Werte und Einstellungen bezüglich Abtreibung von Ärzte ohne Grenzen teil. (Anm. d. Red.: Solche Workshops bieten allen unseren Mitarbeitenden eine Plattform, um sich offen und kritisch zum Thema Schwangerschaftsabbruch zu äussern. Dies ist ein Teil der Strategie, um die Kapazitäten in diesem Bereich auszubauen. Die Teilnehmenden analysieren, hinterfragen und bekräftigen ihre Werte und Einstellungen zum Thema Abtreibung, damit sie hinter dieser Tätigkeit von Ärzte ohne Grenzen stehen und dazu beitragen können.) Es war sehr lehrreich und führte bei nicht wenigen zu einer veränderten Wahrnehmung.

Viele meiner Kollegen waren sich nicht bewusst, welch verheerende Auswirkungen unsichere Schwangerschaftsabbrüche haben. Tatsächlich sterben jedes Jahr mindestens 22 800 Frauen und Mädchen daran, weitere Millionen tragen Verletzungen davon. ​

Nur wenige meiner Kollegen hatten realisiert, dass es einen Zusammenhang gab zwischen den Todesfällen, die wir bei unserer Arbeit miterlebten, und dem Gesundheitssystem, von dem wir Teil sind. Wir hatten einfach nur gewartet, bis Frauen, die nach einem unsicheren Abbruch an Komplikationen litten, zu uns in die Klinik kamen. Jene, die frühzeitig kamen, konnten wir auch behandeln. Doch viel zu oft kam unsere Hilfe zu spät.

gefaltete Hände.
© MSF

Nachdem mein Team an diesem Workshop teilgenommen hatte, waren unsere ersten Patientinnen Leute, die durch Mitarbeitende aus der Logistik und der Beschaffung von uns gehört hatten. Sie schickten Familienangehörige, Bekannte und Nachbarinnen zu uns, die Hilfe brauchten. Der Workshop hatte offensichtlich Wirkung gezeigt.»


2019 - 2021: Zuhören und flexibel sein

«2019 nahm ich eine neue Stelle in einem zentralafrikanischen Land an. Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass Ärzte ohne Grenzen im öffentlichen Spital, das wir dort unterstützten, keine Schwangerschaftsabbrüche mehr anbot, obschon wir die Erlaubnis dazu hatten. Grund dafür waren dieses Mal fehlende Kenntnisse und negative Einstellungen seitens einiger Mitarbeitender des Gesundheitsministeriums, die im Spital tätig waren.

Es gelang mir schliesslich, diese Tätigkeit wieder in Gang zu bringen. Ich sagte meinem Team, dass ich die Verantwortung übernehmen würde, falls sie Probleme mit jemandem hätten, der mit der Durchführung von Abtreibungen nicht einverstanden war. Denn ich wusste, dass ein sicherer Schwangerschaftsabbruch das beste Mittel war, um den betroffenen Frauen zu helfen.

Die meisten Frauen, die aus diesem Grund zu mir kamen, wurden von jemandem aus der Familie begleitet. Wenn die Patientin einverstanden war, erklärte ich dieser Person, wie sie die Frau bei einem selbst durchgeführten medikamentösen Abbruch unterstützen konnte. Diese wusste dann auch, wie sie im seltenen Fall von Komplikationen vorgehen musste und wie sie mich erreichen konnte. So konnte ich in diesem Projekt das Angebot für Schwangerschaftsabbrüche etablieren.

In den 19 Jahren, die ich für Ärzte ohne Grenzen arbeitete, musste ich viel Einfallsreichtum an den Tag legen. Es brauchte viel Selbstvertrauen und manchmal auch Mut. Entscheidend ist, den Frauen zuzuhören. Nur so habe ich immer wieder eine Möglichkeit gefunden, ihnen zu helfen, selbst wenn ich dabei auf Hindernisse stiess.»


*Name geändert

**Obschon es in diesem Text um die medizinische Versorgung von Frauen und Mädchen in unseren Projekten geht, sind wir uns bewusst, dass alle Menschen, die schwanger werden können, das Recht auf angemessene Versorgung haben. Dies schliesst auch Transmenschen sowie Menschen mit non-binärer oder intersexueller Identität ein.