Syrien: «Ich habe Menschen mit Verletzungen gesehen, die ich nicht beschreiben kann»
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Der Unfallchirurg und Leiter eines MSF-Spitals Abu Khalid schildert die dramatische Lage in Ost-Aleppo.
Abu Khalid ist Unfallchirurg und Leiter eines von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) unterstützten Spitals im belagerten Osten von Aleppo. Am 21. August verliess er Aleppo im Glauben, dass die Belagerung vorbei sei. Als sich die Lage jedoch einige Tage später wieder verschlechterte, konnte er nicht mehr zurückkehren. Zurzeit arbeitet er im von MSF betriebenen Al Salamah-Spital im Distrikt Azaz nahe der türkischen Grenze. Von dort aus schildert er die Lage in Ost-Aleppo.
«Als die Belagerung im Juli begann, waren Nahrungsmittel das Hauptproblem. Aleppo ist eine Industriestadt und es gibt nur sehr wenige Orte, an denen etwas angebaut werden kann. Es gibt auch nicht genügend landwirtschaftliche Betriebe am Stadtrand, die ausreichend Lebensmittel produzieren. Die Menschen müssen sich also auf länger haltbare Lebensmittel verlassen: Reis, Bohnen, Kartoffeln und Essen aus Dosen. Diese Nahrung enthält aber nicht ausreichend Vitamine. Die Belagerung treibt die Menschen in den Hunger.
Die Bombardierungen werden immer stärker. Immer mehr Menschen werden durch sie verletzt oder getötet. In der vergangenen Woche wurden in den Spitälern in Ost-Aleppo etwa 100 Patienten pro Tag operiert. Die Zerstörung in der Stadt ist unvorstellbar.
Keine Zeit zum Schlafen
Im Osten von Aleppo gibt es vier Spitäler, die Kriegsverletzungen behandeln können, aber allen fehlt es an Personal. In Ost-Aleppo haben einzig sieben Chirurgen die Fähigkeiten und Erfahrung, um Menschen zu behandeln, die bei Bombenangriffen verletzt wurden. Zusammengerechnet gibt es nicht mehr als 35 Ärzte im gesamten Osten von Aleppo. Weil die Zahl der Verwundeten immer weiter steigt, sind die Spitäler überfordert und ehemalige Medizinstudenten helfen uns in Notfällen, bei Operationen usw. Sie haben während des Krieges viele Erfahrungen gesammelt.
Die Ärzte sind erschöpft. 35 Ärzte sind nicht genug für die Anzahl der Menschen, die immer noch in Ost-Aleppo gefangen sind. Die Ärzte stehen unter enormem Druck: Zahlreiche Verwundete, die ins Spital kommen, müssen oftmals draussen warten. Die Ärzte haben keine Zeit zum Schlafen und müssen dringende Operationen verschieben, weil die Operationssäle konstant belegt sind. Die dringendsten und kritischsten Fälle werden vorgezogen.
Verwundete sterben wegen fehlender Transportmöglichkeiten
Es gibt nur noch zwölf Betten auf Intensivstationen in ganz Ost-Aleppo. Wäre die Stadt nicht belagert, würde das vielleicht ausreichen. Aber so können Patienten nicht aus der belagerten Stadt verlegt werden, und deshalb müssen die Ärzte unglaublich schwierige Entscheidungen treffen: Künstliche Beatmungsgeräte werden Patienten mit geringeren Überlebensmöglichkeiten abgenommen, um anderen Patienten eine Überlebenschance zu geben.
In Ost-Aleppo fehlt spezialisiertes medizinisches Personal wie Neurochirurgen. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Situation das Leid der Menschen verschlimmert: Sie sterben, obwohl sie gerettet werden könnten.
Die Stadt ist wie gelähmt durch den Treibstoffmangel. Vor der Belagerung wurden Verletzte nach Luftangriffen in Privatautos in die Spitäler gebracht, da die Krankenwagen nur begrenzte Kapazitäten haben. Inzwischen müssen die Krankenwagen alle Fahrten übernehmen, so dass Verwundete auf den Transport warten müssen und oft sterben. Es ist eine Katastrophe.
Ein Mensch stirbt, und du kannst es nicht verhindern
Ich habe Menschen mit Verletzungen gesehen, die ich nicht beschreiben kann. Das sind Verletzungen, über die ich nicht einmal in einem Buch etwas gelesen habe. Einmal wurde uns ein Mädchen gebracht, das die Hälfte seines Körpers verloren hatte, aber noch bei Bewusstsein war und mit uns sprechen konnte. Sie hatte Schmerzen und bat mich, diese zu stoppen. Wir operierten sie, auch wenn ein Mensch ohne Becken und Gliedmassen nicht überleben kann. Wir brachten sie auf die Intensivstation, und nach ein paar Stunden wachte sie auf. Sie sah ihre Familie noch ein letztes Mal, bevor sie starb. Ein Mensch stirbt vor deinen Augen und du kannst nichts tun, um es zu verhindern.
Als die Belagerung im Juli begann, waren die Menschen davon überzeugt, dass es ein Ende haben würde. Sie hatten Hoffnung. Im August wurde die Belagerung durchbrochen, aber schon ein paar Tage später war sie wieder intakt. Inzwischen sind die Menschen erschöpft, und die ständigen Bombenangriffe verdoppeln oder verdreifachen diese Erschöpfung.
Meine grösste Hoffnung ist, dass diese Angriffe aufhören. Ich hoffe auch, dass die Belagerung endet, Zivilisten die Stadt verlassen können, Verwundete aus der Stadt gebracht und medizinische versorgt werden können, dass Hilfe in die Stadt hinein kommt. Inzwischen gibt es in Ost-Aleppo kein Insulin mehr. Man denkt vielleicht, das sei keine Priorität, aber der Mangel an Insulin kann Diabetiker das Leben kosten. Wenn die Belagerung weitergeht, werden die Menschen weiter hungern.»