Tschad: Viele geflüchtete Frauen aus dem Sudan haben schwere sexualisierte Gewalt erlebt
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Seit April 2023 bekämpfen sich im Sudan und insbesondere im Gliedstaat West-Darfur das sudanesische Militär und die paramilitärischen «Rapid Support Forces». Auf der Flucht vor der Gewalt, die sich auch gegen die Zivilbevölkerung richtet, strömen seither massenhaft Menschen über 32 Grenzübergänge in den Osten des Tschad. Dort leben heute rund eine halbe Million Geflüchtete über mehrere Camps verteilt unter unmenschlichen Bedingungen. 86 Prozent davon sind Frauen und Kinder, von denen mehr als ein Fünftel unter vier Jahre alt sind. Ihr Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen ist stark eingeschränkt.
Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) arbeitet seit Beginn der Krise in Adré, einer kleinen Grenzstadt zwischen dem Tschad und dem Sudan, wo sich die Menschen seit den ersten Migrationswellen niedergelassen haben. In einem Kontext höchster Unsicherheit kümmert sich die Hilfsorganisation um die Trinkwasserversorgung und bietet allgemeinmedizinische und chirurgische Behandlungen, Geburtshilfe und psychologische Betreuung an. Von Juli bis Dezember 2023 hat Ärzte ohne Grenzen in ihren Einrichtungen 135 Patientinnen behandelt, die berichteten, vergewaltigt worden zu sein. Das Alter der Betroffenen reicht von 14 bis 40 Jahren, 18 von ihnen sind minderjährig. In 90 Prozent der Fälle waren ihre Angreifer bewaffnet. Die Frauen wurden mehrheitlich im Sudan angegriffen, bevor sie in den Tschad kamen. Eine Geflüchtete sagte: «Im Sudan habe ich kaltblütige Morde miterlebt, sogar an Kindern, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie haben Frauen vergewaltigt, teilweise waren mehrere Männer daran beteiligt. Wenn sich die Frauen wehrten, wurden sie umgebracht. In einem Ort haben sie 20 Männer getötet – alle ohne Ausnahme. Nun bete ich zu Gott, er möge mir helfen.»
Es ist leider davon auszugehen, dass die genannten Fälle dieser Untersuchung nur einen Bruchteil der in der Region verübten sexualisierten Gewalt ausmachen. Neben der extremen Armut der meisten Geflüchteten, die heute in provisorischen Camps leben, stellen die Angst vor Vergeltung, die allgemeine Straffreiheit und die Gefahr, von der eigenen Gemeinschaft verstossen zu werden, ein enormes Hindernis im Heilungsprozess der erlittenen seelischen und sozialen Verletzungen dar.
Gehäufte Gewalt
Rund ein Viertel der Patientinnen berichtet, bereits davor schon mindestens einmal sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, und über 40 Prozent von ihnen wurden von mehreren Angreifern vergewaltigt. Die Hälfte der Patientinnen wurde in den eigenen vier Wänden angegriffen. Manchmal geschah dies auch im Beisein von Familienangehörigen, welche die Gewalt mitansehen mussten und ebenfalls misshandelt oder sogar getötet wurden: «Eine Frau erzählte, ihr Mann sei vor ihren Augen von einem Angreifer getötet worden. Anschliessend habe er sich ihr zugewandt und sie vor ihren drei Kindern gefragt, ob sie leben oder sterben wolle. Sie bat ihn, alle am Leben zu lassen, da zwang er die Frau, ihn oral zu befriedigen. Sie kam in Tränen aufgelöst zu uns auf die Station und sagte, sie hätte an dem Tag sterben wollen, um diese Gräuel nicht erleben zu müssen. Zwei ihrer Kinder waren bei ihr. Das eine war sechs Jahre alt und sprach kein Wort, das andere war drei und schrie ohne Unterlass», berichtet Clémence Chbat.
33 Personen berichten von Gewalt im Zusammenhang mit ihrer Vergewaltigung, die entweder gegen sie selbst oder gegen ein Familienmitglied gerichtet war. Väter wurden beim Versuch, ihre Töchter zu schützen, verletzt, Müttern wurde mit dem Tod gedroht, und die Betroffenen wurden häufig sowohl vor als auch nach der Vergewaltigung geschlagen oder getreten. In vielen Fällen nehmen mehrere Männer an der Vergewaltigung teil, manche bedrohen das Opfer, andere halten es fest oder stehen während der Tat Wache.
Einige Frauen berichten, während der Flucht missbraucht worden zu sein. So etwa auf dem Weg zurück in ihre Häuser, um Sachen zu holen, oder während sie Wasser, Stroh- oder Brennholz suchten. «Auch an der Grenze wurden viele Frauen vergewaltigt. Bewaffnete brachten sie in ein abgelegenes Gebäude. Es wird von Massenvergewaltigungen an diesem Ort berichtet, und laut den Berichten zweier Betroffener gab es Frauen, die diese nicht überlebt haben», berichtet Clémence Chbat.
Entführungen, Raubüberfälle und Tötungen
Manche Patientinnen geben an, entführt worden zu sein und Freunde oder Verwandte während des Übergriffs verloren zu haben. Von solchen Entführungen, die von einer Nacht bis zu mehreren Monaten dauerten, ist in 13 Berichten die Rede. Betroffene sagten aus, tagsüber gefesselt und nachts vergewaltigt worden zu sein, andere mussten Hausarbeit verrichten. Genannt werden nicht selten Angriffe durch eine Gruppe bewaffneter Personen. Frauen wurden auch Zeugen, wie Kinder, Kollegen, Bekannte – meist männlichen Geschlechts – getötet wurden. Jede Zehnte berichtet, während der Übergriffe beraubt worden zu sein. Und die Gewalt hört mit der Ankunft in den Camps nicht auf. Clémence Chbat, die mit einer Gruppe Geflüchteter gesprochen hat, nennt unzulässige Durchsuchungen, bei denen insbesondere in den Intimbereich eingedrungen wird: «In einem Zelt erzählten Frauen, bei der Reise nach Adré durchsucht worden zu sein: in den Achselbeugen, an den Brüsten und sogar zwischen den Beinen – sie zeigten auf die Stellen. Sie entblössten sie und fuhren ihnen mit der Hand in die Scheide, um zu überprüfen, dass sie dort kein Geld oder Schmuck versteckt hielten. Eine ältere Frau sagte, man habe ihr auf diese Weise ihr letztes Geld genommen.»
Traumata und ungewollte Schwangerschaften
Auch besonders schutzbedürftige Menschen, Schwangere oder Personen mit Behinderungen werden mitunter Ziel von Übergriffen. Bei den Visiten klagen die Patientinnen über Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, allgemeine Schmerzen und Angstzustände – vor allem, wenn sie auf ein Lebenszeichen eines Familienmitglieds warten. Andere sprechen davon, dass sie sich vor einer Schwangerschaft als Folge der Vergewaltigung fürchten: Tatsächlich fiel bei 30 Prozent ein Schwangerschaftstest positiv aus und bei manchen ist seit der Vergewaltigung die Menstruationsblutung ausgeblieben. Es gibt ausserdem vielfach klinische Anzeichen für eine Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten und in manchen Fällen mit HIV. Zahlreiche Menschen haben in diesem Konflikt Familienangehörige oder Bekannte verloren: «Viele berichteten, dass Leichen neben ihren Häusern und auf den Strassen lagen, deren Verwesungsgeruch unerträglich war. Eine Frau erzählte, das Haus ihrer Nachbarn, in dem zehn Personen wohnten, sei abgebrannt worden, und alle darin umgekommen seien», sagt Clémence Chbat im Gespräch.
In einem jüngsten Bericht von Epicentre, dem Zentrum für epidemiologische Forschung von Ärzte ohne Grenzen, wird ein starker Anstieg der Sterblichkeit seit Anfang des Konflikts 2023 bestätigt. Besonders betroffen sind die Geflüchteten im Camp von Ourang, die hauptsächlich aus El Geneina stammen: Bei ihnen hat sich die Sterberate seit April verzwanzigfacht. Die Trauer um einen Angehörigen verstärkt das Trauma, das sexualisierte Gewalt nach sich zieht.
Ungewissheit
Die Frauen in den Geflüchtetencamps sind meist allein und häufig der einzige Halt für ihre Familien. Es gibt bereits Fälle von akuter Mangelernährung, von der vor allem Kleinkinder betroffen sind. Das Welternährungsprogramm, dessen Finanzierung für diese Krise unzureichend ist, sollte rasch eine gross angelegte Lebensmittelverteilung organisieren, um einen massiven Anstieg der Sterblichkeit unter den anfälligsten Personengruppen zu verhindern. Heute brauchen die in den Tschad geflüchteten Menschen dringend Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen, wie Wasser, Toiletten, Menstruations- und generelle Hygieneartikel sowie ausreichend Nahrungsmittel. Nur so können sie nach all der Gewalt, die sie erleben mussten, endlich etwas zur Ruhe kommen und sich in Sicherheit fühlen. Da die Frauen in den Camps und der unmittelbaren Umgebung weiterhin der Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt sind, müssen die zuständigen Behörden unbedingt Schutzmassnahmen ergreifen. Dazu gehören u. a. ausreichend öffentliche Beleuchtung, geschlechtergetrennte sanitäre Einrichtungen und die Verteilung von Brennmaterial, damit es nicht nötig ist, ausserhalb des Camps Holz zu sammeln. Das wäre das Mindeste, um sich nach einer Gewalterfahrung nicht vor neuen Übergriffen fürchten zu müssen. Das Mindeste, um sich um diejenigen kümmern zu können, die überlebt haben.
Text: Françoise Duroch, Nelly Staderini, Pamela Were, Clémence Chbat.
Der Artikel wurde erstmals in Le Temps, Ausgabe vom 8. Februar 2024, veröffentlicht.
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