Frauen aus dem Sudan: Zu allem bereit, um ihre Familie zu retten
© Laora Vigourt/MSF
Tschad6 Min.
Seit Beginn des Krieges im Sudan im April 2023 sind mehr als 550 000 Menschen in den Osten des Tschad geflohen – vor gewalttätigen ethnischen Übergriffen, brutaler Gewalt und Morden.
Viele der sudanesischen Frauen haben ihre Männer verloren und müssen ihre Familie nun allein durchbringen. Die folgende Sammlung von Erfahrungsberichten zeugt vom Mut und der unerschütterlichen Entschlossenheit, mit der sudanesische Frauen ihre Familien auf der Flucht vor ethnischer Gewalt in Darfur schützen.
Ghalia: «Im Lager werden wir nicht getötet, aber wir haben nichts zu essen.»
«Die zunehmende Gewalt in meiner Nachbarschaft war furchtbar. Ich kann gar nicht zählen, wie viele Menschen auf der Strasse getötet wurden. Am Tag des Angriffs auf mein Haus rannte ich los, meinen Jüngsten auf dem Rücken. Es waren so viele Menschen draussen, dass ich meine anderen Kinder und meinen Mann verloren habe. Bewaffnete Männer sagten uns, wir sollten umkehren und die Strasse nach Westen nehmen, die Strasse, die in den Tschad führt.
Im nächsten Dorf fand ich meine Kinder wieder. Sie hatten es geschafft, zusammenzubleiben und sich gegenseitig zu unterstützen. Sie waren durstig, hungrig, müde und hatten Angst. Aber ich war so erleichtert. Ich hatte gedacht, ich würde sie nie wieder sehen; ich hatte befürchtet, sie wären getötet worden.
Als wir in Adré ankamen, fanden wir Zuflucht in einer Schule. Sechs Tage später fand ich meinen Mann im [von Ärzte ohne Grenzen unterstützten] Spital. Man hatte ihm in den Arm geschossen. Er kämpft immer noch mit den Schmerzen und kann keine schweren Dinge wie einen Wasserkanister heben. Also muss ich mich um ihn kümmern.
Wir kamen Mitte Juli letzten Jahres in dem neuen Camp an. Hier gibt es keine Bomben oder Schüsse. Man versucht hier nicht, uns umzubringen, aber wir haben kaum etwas zu essen. Wir sind vollständig von humanitärer Hilfe abhängig, vor allem, was Lebensmittel angeht. Auch Wasser ist ein grosses Problem. Die Schlange, um Wasser zu bekommen, ist sehr lang, ich muss früh aufstehen, um mich anzustellen. Im Sudan waren wir Bauern. Aber hier in Aboutengue gibt es nichts, wir sind hier mitten im Nirgendwo.»
Nafissa: «Am Tag unserer Flucht sah ich so viele tote Menschen auf der Strasse. Ich hätte nie gedacht, dass wir lebend ankommen würden.»
«Der Krieg ist im vergangenen Jahr eskaliert, aber es gab schon vorher Gewalt in unserer Region. Mein Mann wurde 2022 getötet, und einer meiner Söhne im Mai 2023. Mein Sohn war erst 10 Jahre alt. Er wurde auf der Strasse erschossen und starb drei Tage später im Spital an seinen Verletzungen. Als ich [im Juni 2023] von neuen Angriffen in unserem Viertel hörte, verliess ich mit meinen verbliebenen zwei Kindern mein Haus und kehrte nie wieder zurück.
Ich ging mit meinem Sohn und meiner Tochter zu Fuss los. Wir hörten Schüsse, bewaffnete Männer fingen an, auf die Menge zu schiessen, die Menschen rannten in alle Richtungen. In diesem Moment habe ich meine Tochter verloren.
Am Tag danach war ich mit meinem Sohn auf der Strasse unterwegs, als bewaffnete Männer uns anhielten. Sie versuchten, ihn mit einem Messer zu verletzen, aber ich wickelte ein Tuch um meine Hand und konnte die Klinge abwehren und ihn schützen. Dann stachen sie erneut zu und schnitten mir ins Bein. In diesem Augenblick entdeckten sie einen Mann in einiger Entfernung von uns und gingen hinüber, um ihn zu töten. Da ist es mir gelungen, mit meinem Sohn zu fliehen. So ist das: Sie töten zuerst die Männer, dann die Frauen. Dieser Mann hat gewissermassen mein Leben mit seinem gerettet.
In jeder Gruppe von Menschen, die gemeinsam flüchten, werden einige erschossen und einige schaffen es bis nach Adré [Grenzstadt im Tschad]. Aber irgendwann dachten wir alle, dass wir auf dem Weg sterben würden. An der Grenze habe ich meine Tochter wiedergefunden, sie war erschöpft und verängstigt, aber ich war so erleichtert, dass sie am Leben war.»
Taiba: «Wir können hier nichts tun. Es gibt keine Arbeit, kein Land, keine Möglichkeit, irgendwie über die Runden zu kommen.»
«Wir wurden unterwegs zweimal angehalten. Beim ersten Mal schossen bewaffnete Männer auf die Menge und mein Mann wurde in den rechten Fuss getroffen – er konnte kaum noch laufen. Beim zweiten Mal wurden wir wieder von bewaffneten Männern angegriffen. Sie traten mich und schlugen meinen Mann mit einem Stock. Danach konnte er sich kaum noch bewegen. Ich versuchte, ihn zu tragen, so gut dies mit dem Baby im Arm möglich war. Eine Frau bot mir freundlicherweise an, meine Tochter Aya zu nehmen, während ich versuchte, meinen Mann und meinen Sohn zu tragen.
Als wir im Spital von Adré ankamen, wurden wir von den medizinischen Teams, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, behandelt. Da erfuhren wir, dass der linke Arm und das linke Bein meines Mannes durch die Schläge für immer gelähmt bleiben werden.
Vor dem Krieg hatten wir in El Geneina ein gutes Leben. Ich arbeitete als Hebamme im Spital, mein Mann war Geschäftsmann und handelte mit Autos. Sobald der Sudan sicher ist, werden wir zurückkehren. Denn das Leben hier ist so schwierig, wir haben keinen Zugang zu grundlegenden Dingen: Nahrung, Wasser, Schule, Arbeit. Wir haben kein Bett, keine Matratze, es fehlt uns an vielen Dingen. Das einzige Essen, das wir bekommen, stammt von humanitären Organisationen. Manchmal unterstützen uns Menschen aus der Gemeinde und geben uns etwas zu essen. Aber wir können hier nichts tun. Es gibt keine Arbeit, kein Land, keine Möglichkeit, irgendwie über die Runden zu kommen. Ich bin die Einzige, die sich um meine Familie kümmert. Mein Mann kann sich wegen seiner Lähmung nicht bewegen, also muss ich alles machen, vom Wassertragen bis zur Nahrungssuche.»
Gisma: «Später möchte ich für eine humanitäre Organisation arbeiten, damit ich helfen kann. Aber ich weiss nicht, was die Zukunft bringt.»
«Wir sind im Juni letzten Jahres aus El Geneina geflohen. Es war sehr schwierig. Mein Vater wurde getötet. Während der Angriffe verliessen wir zusammen mit meiner Familie das Haus, aber unterwegs verloren wir uns. Ich war mit drei meiner Schwestern unterwegs, wobei ich die jüngste auf dem Rücken trug. Auf der Strasse trafen wir auf bewaffnete Männer, und sie nahmen zwei meiner Schwestern mit. Sie verletzten sie. Ich hatte keine andere Wahl als zu fliehen.
Wir überquerten die Grenze und kamen barfuss in Adré an, da wir nichts mitnehmen konnten. Einige Leute halfen uns und gaben uns Wasser. Eine nette Frau teilte ihr Essen mit uns. Ich war erleichtert, die Grenze zu erreichen, vor allem, als ich meine Schwestern und meine Mutter wiedersah.
Ich lerne gerne und bin froh, dass es hier eine Schule gibt. Wir werden unter dem Baum im Ouaddi [ein trockenes Flussbett] unterrichtet. Aber ich gehe nicht mehr hin, weil ich mich um meine Schwestern kümmern muss. Meine Mutter versucht, zurück in den Sudan zu gehen und alles zu holen, was sie für unser Überleben mitnehmen kann. Wir haben hier nichts, es ist sehr schwierig, so zu leben. Später möchte ich für eine humanitäre Organisation arbeiten, damit ich helfen kann. Aber ich weiss nicht, was die Zukunft bringt.»
Ouaddi (trockenes Flussbett) im Camp Aboutengue im Osten des Tschad. Hier findet die Schule statt, in der Mathe, Geschichte, Englisch und Arabisch gelehrt wird.
In Metche und Aboutengue leisten die Teams von Ärzte ohne Grenzen Geburtshilfe und pädiatrische Versorgung, behandeln mangelernährte Kinder, leisten medizinische Grundversorgung, und die Teams für Wasser und Hygiene verteilen den grössten Teil des Wassers in den Camps. Trotz unserer Bemühungen bleibt die humanitäre Hilfe unzureichend. Wir rufen daher immer wieder auch die anderen humanitären Akteure auf, ihre Hilfe aufzustocken, um den immensen Bedarf der Menschen vor Ort zu decken.
© Laora Vigourt/MSF