Ukraine: «Erst wenn du es selbst erlebst, weisst du, wie es sich anfühlt.»
© Alexander Glyadyelov
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Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) in Dnipro und Saporischschja aktiv. Diese Regionen nahmen als erste vertriebene Menschen aus Mariupol, Berdiansk, Melitopol und anderen nicht von der Ukraine kontrollierten Orten auf.
Gemäss den ukrainischen Behörden sind rund 300 000 Menschen in die Region Dnipropetrowsk und rund 100 000 nach Saporischschja geflüchtet. Seit Mai 2022 haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen hier 8000 Konsultationen für nichtübertragbare Krankheiten durchgeführt und die Menschen mit den entsprechenden Medikamenten versorgt.
Grosser Hilfsbedarf bei Menschen mit nichtübertragbaren Krankheiten
«Es besteht ein grosser Bedarf an medizinischer Versorgung für Menschen mit nichtübertragbaren Krankheiten. Das grösste Problem sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gefolgt von Erkrankungen der Atemwege und des Bewegungsapparats – und dies bei Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten und meist noch lange Reisen vor sich haben, bis sie sich irgendwo niederlassen und ihr Leben weiterführen können», erklärt Gilles Grandclément, Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Dnipro und Saporischschja. «Menschen mit nichtübertragbaren und chronischen Krankheiten brauchen regelmässig Medikamente, was auf der Flucht schwierig ist.»
Seit Mai 2022 haben unsere Teams in der Region 82 temporäre Unterkünfte für ältere Menschen und Familien mit Kindern aufgesucht. In Dnipro betreiben die Teams drei mobile Kliniken, in Saporischschja zwei. Zusätzlich zur medizinischen Versorgung helfen wir bei der Vorbereitung auf den Winter. So stellen unsere Teams vor Ort wichtige Hilfsgüter wie Hygienekits, Windeln für Babys und medizinische Artikel zur Verfügung und unterstützen die Sanierung der Gebäude.
Medizinische und psychologische Unterstützung in mobilen Kliniken
Der Pflegefachmann Stanislav Kramskyi ist mit den mobilen Kliniken in Saporischschja unterwegs. Sie bieten medizinische und psychologische Grundversorgung an und versorgen die Menschen kostenlos mit Medikamenten. Ein Grossteil der Bevölkerung leidet unter dem Stress und den Traumata des Krieges, so auch die Kinder.
«Die Kinder in diesem Krieg kann man in zwei Gruppen einteilen», erklärt Kramskyi. «Da sind einerseits die emotional instabilen Kinder, mit denen man nur schwer kommunizieren kann und die oft sehr verzweifelt sind. Und andererseits jene, die vorzeitig erwachsen geworden sind. Ihre Augen, ihr Verhalten und ihre Gedanken sind die eines Erwachsenen. Bei dieser Familie hier sieht man das auch. Die ältere Tochter, die etwa zehn Jahre alt ist, verhält sich wie ihre Mutter, als wäre sie erwachsen, während das jüngere Mädchen noch Unterstützung braucht.»
Fünf Mitarbeitende betreiben unsere mobile Klinik in Saporischschja: eine Fachperson für Psychologie, Pflege, Medizin, soziale Arbeit und Mobilität.
Die wichtige Arbeit der Psycholog:innen
Kramskyi erklärt, wie wichtig für die Menschen in den Unterkünften manchmal ein einfaches Gespräch ist. Die medizinische Konsultation tritt dann in den Hintergrund.
«Ich erinnere mich an eine ältere Frau in einer Unterkunft in Saporischschja. Ihr Bluthochdruck war schlimmer geworden. Ich bat sie, ihren Blutdruck regelmässig zu messen und die Werte in einem Notizbuch zu vermerken. Ich gab ihr mein eigenes. Als ich sie das nächste Mal besuchte, fragte ich sie nach dem Notizbuch. Sie zeigte es mir und lächelte – es war leer. Sie erklärte, sie habe keine Zeit, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, während Krieg herrscht», erzählt Kramskyi.
Ich sehe, dass Frauen im Allgemeinen trotz all der Belastungen irgendwie zurechtkommen. Sie verstecken ihre Probleme hinter einem Lächeln.
Im Team der mobilen Klinik arbeiten auch Psycholog:innen, so zum Beispiel Marina Popova. «Sie arbeitet in einem eigenen Raum, der für psychologische Beratungen vorgesehen ist. Dort bietet sie Gruppenberatungen für Kinder mit ihren Eltern und Einzelsprechstunden für Erwachsene an. Marina hilft ihnen, mit negativen Emotionen umzugehen.»
Hilfe für die traumatisierte Bevölkerung
Bevor der Krieg ausbrach, waren das Messezentrum und die Konzerthalle ein beliebter Ort für die Bevölkerung von Saporischschja. Jetzt ist es in der Region eine der wichtigsten Anlaufstellen für Vertriebene, die Hilfe brauchen. Kramskyi hat im Vorbeigehen schon oft lange Schlangen gesehen.
«Die Menschen haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse und MSF-Psycholog:innen wie Marina unterstützen sie bestmöglich. Die einen müssen Papiere ausfüllen, andere brauchen lebensnotwendige Güter. Einige möchten keine konkrete Hilfe, sondern über ihre Erfahrungen reden, in der Hoffnung, sich danach etwas besser zu fühlen. Sie wollen weiterhin an eine positive Zukunft glauben und lernen, auch während des Krieges Pläne zu machen.»
Gemäss Projektkoordinator Gilles Grandclément haben bereits mehr als 1200 Menschen Hilfe beim psychologischen Fachpersonal von Ärzte ohne Grenzen gesucht.
Wir sehen die Zerstörung und die Auswirkungen auf die Bevölkerung, aber erst wenn du es selbst erlebst, weisst du, wie es sich wirklich anfühlt.
«Wir treffen oft Menschen in ihren Vierzigern und Fünfzigern, die jahrelang gearbeitet und gespart hatten, um Häuser für ihre Familien zu kaufen. Dann mussten sie miterleben, wie ihr Haus und damit ihr gesamtes Erspartes zerstört wurde. Man kann sich kaum vorstellen, wie hart das für diese Menschen ist. Wir sehen die Zerstörung und die Auswirkungen auf die Bevölkerung, aber erst wenn du es selbst erlebst, weisst du, wie es sich wirklich anfühlt», so Grandclément.
Zuhören und Methoden zur Stressbewältigung
Unsere Psycholog:innen stellen fest, dass diese Menschen oft nur dank ihren Familien und Kindern stark bleiben und weitermachen. Aber sie stehen unter Schock. Es ist wichtig, ihnen einen sicheren Ort zu bieten, wo sie über ihre Gefühle sprechen können. Die Fachperson hört ihnen zu und bietet Methoden zur Bewältigung von Stress, Traumata und Verlust an.
Unsere Mitarbeitenden, von denen viele selbst Vertriebene sind, erhalten ebenfalls Stressbewältigungstrainings. Die Organisation arbeitet in 36 Unterkünften in Saporischschja und in 46 Unterkünften in Dnipro.
© Alexander Glyadyelov