Westjordanland: Besetzung hat schwere Folgen für die Gesundheit der Menschen
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Palästinensische Autonomiegebiete3 Min.
Die Menschen im Westjordanland leiden unter den Restriktionen durch israelische Behörden. Besonders betroffen ist das Gebiet H2 in der Stadt Hebron. Die Situation zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten, mit denen die unter israelischer Kontrolle lebende palästinensische Bevölkerung zu kämpfen hat. In dem Gebiet leben rund 20% der Bevölkerung der Stadt: 7000 Palästinenser:innen und mehrere hundert israelische Siedler:innen. Zu den strengen Restriktionen zählen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, systematische Abriegelungen und anhaltende Gewalt. Unsere Teams leisten vor Ort medizinische Grundversorgung und psychologische Betreuung, während der Zugang der palästinensischen Bevölkerung zu medizinischen Leistungen willkürlich behindert wird.
Im H2-Gebiet befinden sich 28 Checkpoints, von denen die meisten mit Metalldetektoren, Überwachungskameras, Gesichtserkennungstechnologien, Haft- und Verhörräumen ausgestattet sind. Israelisches Personal ist dort stets anwesend. Die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung und des medizinischen Personals ist stark eingeschränkt.
Der Zugang zu medizinischer Versorgung sollte niemals willkürlich verweigert, behindert oder blockiert werden.
Die israelischen Streitkräfte gehen gegen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens vor, und parallel dazu haben sie die Restriktionen im Westjordanland, darunter auch Hebron, erheblich ausgeweitet. So mussten die Teams von Ärzte ohne Grenzen zum Beispiel im Dezember 2023 ihre Arbeit im Viertel Dschaber in H2 für mehr als fünf Monate einstellen. Als Begründung gaben die israelischen Behörden Sicherheitsbedenken an. Unsere Teams eröffneten eine mobile Klinik in der Nähe, aber auf der anderen Seite des Checkpoints. Doch nur wenige Patient:innen erreichten uns dort.
Inzwischen konnten wir unsere Aktivitäten im Dschaber-Viertel wieder aufnehmen. Der Zugang bleibt jedoch schwierig, da unsere Mitarbeitenden an den verschiedenen Kontrollpunkten in H2 jederzeit durchsucht und aufgehalten werden können.
Kinder und Familien befinden sich in einer akuten psychischen Notlage
Unsere Teams stellen fest, dass die anhaltenden Restriktionen, Schikanen, Gewaltvorfälle und das Schüren von Angst eine dramatische Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern zur Folge haben. Kinder weisen Psycholog:innen von Ärzte ohne Grenzen zufolge Symptome auf, die für Traumata typisch sind, darunter Hyperaktivität, Bettnässen, Albträume und Schwierigkeiten in der Schule.
«Die Eltern stehen in H2 unter enormem Druck. Sie können den materiellen, emotionalen und psychologischen Bedürfnissen ihrer Kinder kaum gerecht werden. Unsere Teams berichten, dass dieser permanente Stress zum Anstieg häuslicher Gewalt beiträgt», erklärt Ola Jabari, Beauftragte für psychologische Betreuung von Ärzte ohne Grenzen.
Lucia Uscategui, die Leiterin unserer Aktivitäten im Bereich psychische Gesundheit in der Region, erinnert sich an die Geschichte eines elfjährigen Jungen, der an einem der Checkpoints rund um H2 zu einer entwürdigenden und erniedrigenden Leibesvisitation gezwungen wurde. «Danach weigerte er sich mehrere Wochen lang, das Haus zu verlassen. Er litt unter Albträumen, Bettnässen und grosser Angst. Sein Vater brachte ihn zu uns, aber das Trauma sitzt bei allen bereits tief. So geht es vielen Familien im Gebiet H2.»
Nachhaltig traumatisiert und ohne Hoffnung
«In den palästinensischen Gebieten kann man nicht von posttraumatischen Belastungsstörungen sprechen, denn das Trauma endet nie. Hier handelt es sich um ein kontinuierliches und komplexes Trauma, das die ganze Bevölkerung betrifft», erklärt Lucia Uscategui.
Selbst wenn der Konflikt und die Besetzung morgen zu Ende wären, würden die Folgen noch jahrelang nachwirken. Aber unsere Arbeit besteht darin, den Menschen zu zeigen, dass sie nicht allein sind – dass es noch Hoffnung gibt, selbst in den dunkelsten Momenten.
Trotz der grossen Herausforderungen legen viele Menschen in der Gemeinde eine beeindruckende Resilienz an den Tag. Aber Lucia Uscategui stellt auch einen Anstieg ungesunder Verhaltensweisen fest: Menschen fangen zum Beispiel an zu rauchen oder verbringen Stunden am Smartphone. «Das sind Versuche, schnell ein gewisses Mass an Trost zu finden. Langfristige Lösungen wie etwa eine Therapie erscheinen den Menschen sinnlos, da sie die Hoffnung verloren haben, dass sich die Dinge jemals ändern werden.»
Ärzte ohne Grenzen fordert die israelischen Streitkräfte auf, die Restriktionen aufzuheben, die den Zugang der Palästinenser:innen zu grundlegenden Dienstleistungen, einschliesslich medizinischer Versorgung, behindern. Israel muss alle notwendigen Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Menschen ungehinderten Zugang zu medizinischen Leistungen haben. Der Zugang zu medizinischer Versorgung darf niemals willkürlich verweigert, behindert oder blockiert werden.
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